Freitag, 30. Oktober 2009

(sich) erinnern

Ein zwölfjähriges israelisches Mädchen soll für ein Schulprojekt ihre Großmutter über ihre Vergangenheit im Dritten Reich befragen. Ihre Lehrerin hat der Klasse beigebracht, wie man das richtig macht. Aber alles, was sie aus ihrer Großmutter herausbekommt, ist ein pantomimischer Schlittschuhlauf, die Worte »Dunkelheit, Loch, Kartoffeln, und dann war der Krieg zu Ende.« Und eine Legende, eine Fabel – darüber, wie die Ratte dem Schöpfer das Lachen abtrotzte. Das Mädchen ist verzweifelt, da sie dafür bestimmt keine gute Note bekommt.

Nava Semels Roman Und die Ratte lacht, 2007 erschienen im persona verlag (übersetzt von Mirjam Pressler), ezählt die Geschichte eines jüdischen Mädchens, das von seinen Eltern an ein Bauernehepaar gegeben wird, die es gegen Bezahlung verstecken sollen; das von ihren ›Beschützern‹ in die Kartoffelgrube gesperrt und von deren Sohn immer wieder vergewaltigt wird; das von einem Priester aus dem Erdloch gerettet wird; das von Zionisten nach Israel gebracht wird – wo sie später Mutter und Großmutter wird …
Mehr noch erzählt der Roman aber die Geschichte der Erinnerungen dieser Frau: Wie sie es nicht schafft sich zu erinnern, geschweige denn davon zu erzählen; wie ihre Tochter glaubt, sie habe ja sowieso nichts erlebt, an das sie sich erinnern könne; wie ihre Enkelin sich eine Geschichte von den heroischen Bauersleuten zusammenreimt, die ihre Großmutter unter Einsatz ihres Lebens beschützten und liebten wie ein eigenes Kind …
Als die Großmutter das Internet für sich entdeckt, schafft sie es endlich, ihr Trauma auszudrücken – in kurzen Gedichten, ohne Publikum, in der Anonymität des Netzes. Von dort aus geht ihre Erinnerung weiter auf Reise – die Gedichte werden in Kettenbriefen weitergeleitet, jemand fügt noch die Legende vom Lachen der Ratte hinzu … und ein Jahrhundert später ist das Mädchen mit Ratte in der Populärkultur verbreiteter als Raffaels Engel. Im Jahr 2099* versucht eine Wissenschaftlerin, die Ursprünge der Legende auszugraben – und findet das Tagebuch des Priesters, der das Mädchen 1943 bei sich beherbergte. Damit schließt sich der Kreis, die Erinnerung wird wieder Wahrheit, oder so etwas ähnliches.

Und die Ratte lacht ist ein starkes, auch erschütterndes Buch, das den Leser berührt und mit offenen Fragen zurücklässt, ihn selbst zum Erinnern und zum Nachdenken über das Erinnern anregt. Es ist auch ein kluger Kommentar (nicht nur) zur israelischen Erinnerungskultur, die institutionalisiert, ritualisiert … es aber nicht unbedingt einfacher macht, die eigene Erinnerung preiszugeben.
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Das Bild, ein Ausschnitt aus Gottfried Helnweins Gemälde Kindskopf (1991), ist laut der Autorin ein perfektes Portrait der Protagonistin des Romans.
(Quelle)


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* Die Science-Fiction-Elemente in diesem Teil des Romans sind die Rechtfertigung dafür, dieses Buch in einem Fantastik-Blog vorzustellen …

Freitag, 9. Oktober 2009

Funkstille am Hermanstädter See

Das liegt daran, dass Anubis sich seit einigen Monaten im mythischen Buenos Aires aufhält, und Eosphoros schreibfaul geworden ist.

Heute also ein Lebenszeichen, und zwar folgendes: Wer sich schon immer mal bei der Tolkien-Erbengemeinschaft lieb Kind machen wollte, bekommt hier eine einmalige Gelegenheit geboten:


Gesehen in der Provinz Buenos Aires. Einfach Copy + Paste benutzen, an die Erben schreiben und das Kopfgeld kassieren. Muahahahahaha!

Mittwoch, 17. Juni 2009

Großmutter

»Mama, darf ich zur Oma gehen?«
»Nein.«
»Aber ich bin schon fertig mit Ziegen melken.«
»Trotzdem nein.«
»Aber der Oma geht’s doch nicht so gut, und ich wollte ihr was von dem frischen Brot bringen, das du gebacken hast!« sagte sie mit Tränen in den Augen.
»Na gut …«
Also ging sie los.

An einer Wegkreuzung im Wald traf sie den Warg, der sie freundlich begrüßte:
»Hallo, meine Kleine. Wo willst du denn hin?«

Sonntag, 24. Mai 2009

Lyra

Kürzlich habe ich nochmal His Dark Materials von Philip Pullman gelesen, diesmal auf Englisch – das hat schonmal den Vorteil, dass ich mich bei der Lektüre nicht wundern muss, warum landloper mit »Landloper« ›übersetzt‹ wurde, statt mit »Landratten« … außerdem sind die Dialoge angefüllt mit allerlei schönen Dia- und Soziolekten.

Und noch einmal lässt mich die Lektüre etwas ratlos zurück. Zugegebenermaßen weniger ratlos als nach dem ersten Lesen, da ich jetzt einen ausreichenden Überblick über die Funktionsweise von Pullmans Zweitschöpfung habe, sozusagen genug von »experimenteller Theologie« verstehe. Sogar der Verweis auf The Alamo ist mir diesmal aufgegangen, obwohl ich sonst ziemlich blind bin gegenüber Intertextualität und anderen Verweisen.

Auch mit Pullmans manchmal kindisch, fast schon lächerlich wirkenden antiklerikalen und antireligiösen Eskapaden habe ich mich inzwischen abgefunden. Persönlich angegriffen habe ich mich sowieso nie gefühlt – Pullmans Bild von der Kirche hat nicht viel mit der realen Kirche zu tun, und Pullmans »Gottesbild« hat nichts mit meinem persönlichen Gottesbild zu tun. Ich wundere mich natürlich, ob Pullman sich bewusst ist, wie viele soziale Aufgaben »die Kirche« übernimmt, also wie wichtig die Arbeit lokaler christlicher Gemeinden ist.

Und auch wenn dieser Einstieg recht negativ klingen mag, bleibt doch die Tatsache, dass ich die eintausend Seiten verschlungen und genossen habe, mitgefiebert und mir vor Spannung den Bart gerauft habe. Nach meinem Verständnis von guter Literatur sind damit die wichtigsten Kriterien für einen ›großen Wurf‹ eindeutig erfüllt!

Warum also weiß ich immer noch nicht, was ich mir aus His Dark Materials machen soll? Einerseits liegt dies wohl in der Absicht des Autoren, da er am Ende die Charaktere gleichsam durch eine Tür abtreten lässt, die er nur einen Spalt weit öffnet, durch den ein Schimmer fernen Lichts fällt, und durch den wir für einen kurzen Augenblick eine weit offene Zukunft erahnen.

Aber auf den Grund, warum ich dieses Mammut von einer Geschichte innerhalb weniger Tage gefressen habe, kann ich immer noch nicht mit dem Finger zeigen – trotzdem versuche ich es: Lyra.
Lyra lügt. Lyra kämpft wie eine Katze. Lyra ist mutig. Lyra hat Charme. Lyra ist trotzig. Lyra ist unbeirrbar. Lyra ist … Lyra eben. Die Geschichte wird getragen von Lyra – sofern Lyra sie denn zu tragen vermag.

Ich vermute, Lyra muss eine rather overwhelming personality haben, die sehr für sie einnimmt. Denn an diesem Punkt versagt Pullmans Kunst für mich – ich lese davon, dass Lee Scoresby und Iorek Byrnison und Serafina Pekkala für Lyra in den Kampf ziehen und bereit sind, für sie zu sterben – aber ich kann nicht ganz nachfühlen, warum. Ich lese davon, welchen Eindruck Lyra auf die Leute macht, die sie trifft – aber mich beeindruckt sie nicht genauso sehr. Liegt das nur an mir? Oder liegt es daran, dass Pullman es nicht so recht schafft, Lyra lebendig vor mein inneres Auge treten zu lassen?

Diesmal stieß mir bei der Lektüre besonders übel auf, wie Lyra von Will in kürzester Zeit gezähmt wird. Dieselbe Lyra, die schon Panzerbären und dem Magisterium die Stirn geboten hat, verhält sich plötzlich Will gegenüber larmoyant und unterwürfig wie ein Haustier. Hat sie etwa die ganze Zeit nur darauf gewartet, ihr burschikoses Gebaren über Bord und sich in die Arme eines männlichen Retters werfen zu können? Ich kann mir nicht helfen, das fand ich enttäuschend.
Und am Ende kann Lyra nichteinmal mehr Lügengeschichten erzählen. Was bleibt da noch von der Lyra, die alle lieben?

Immerhin, sie bleibt ein kleines Mädchen, das in die Unterwelt hinabsteigt und die Toten aus ihrer Gefangenschaft befreit – und zwar nur, weil sie ihren besten Freund verraten zu haben glaubt. Worüber ich als Leser mindestens genauso staune und lache wie Asriel. Pullmans Trick, religiöse Mythologie auf die Ebene der Fantasy herunterzuziehen, damit Gott an Altersschwäche sterben kann und lebende Menschen das Reich der Toten bereisen können, funktioniert soweit. Aber dazu muss Lyra auch teilweise zu einer mythischen Figur werden, und in Gefahr geraten, dem Leser verloren zu gehen.

Lyra also ist das Herz und die Seele der Geschichte, was Kate Bush recht schön in ihrem Titellied des Films Der Goldene Kompass ausdrückt.
Genau genommen glaube ich, dass auch Scoresby und Iorek nicht wissen, warum sie Lyra lieben. Wieso sollte ich also wissen, warum ich ihre Geschichte liebe?

Mittwoch, 20. Mai 2009

Die tollkühnen Homo-Heiler auf ihren fliegenden Kongressen

LeserInnen werden sicherlich bemerkt haben, dass hier seit einiger Zeit auf die Seite des Bündnisses »Kein Raum für Sexismus, Homophobie und religiösen Fundamentalismus« verlinkt wird. Von Donnerstag an soll nämlich in Räumen der Marburger Universität ein Kongress der Akademie für Psychotherapie und Seelsorge (APS) stattfinden, ein obskurantistischer Verein aus der Evangelikalenszene, der durch unangenehme Nähe zu Quacksalbern auffällt, die Homosexualität als therapiebedürftige Persönlichkeitsstörung verkaufen wollen.

Von dem pseudowissenschaftlichen Kongress bzw. von den menschenverachtenden Positionen einzelner ReferentInnen distanziert hat sich u.a. eine Gruppe von Marburger PsychotherapeutInnen, die AIDS-Hilfe Marburg und der Fachbereich Evangelische Theologie. Publizistische Schützenhilfe erhält die APS dagegen – wenig überraschend – vom Stammtischblatt für neurechte AkademikerInnen, der Jungen Freiheit, und dem katholisch-traditionalistischen Nachrichtenportal kreuz.net, auf dessen Internetplattform gern auch mal NS-Verbrechen relativiert oder geleugnet werden. Zur Unterstützung des Kongresses an die Öffentlichkeit gegangen ist auch eine »Initiative für Freiheit und Selbstbestimmung«, welche eine Erklärung samt Unterschriftenliste präsentiert. Unterzeichnet hat z.B. CSU-MdB Norbert Geis, der im Themenfeld Homophobie mit folgender denkwürdiger Aussage glänzt:
Es ist … an der Zeit, dass diese Lebensform [Homosexualität, Anm. von mir] endlich auch in der Öffentlichkeit als das bezeichnet wird, was sie ist: die Perversion der Sexualität. Die Aufdringlichkeit, mit der sich Homosexuelle öffentlich prostituieren, ist nur noch schwer zu ertragen. Sie lassen jede Scham vermissen. Der Verlust der sexuellen Scham aber ist immer ein Zeichen von Schwachsinn, wie es Freud formuliert hat. Deshalb muss in der Öffentlichkeit Widerspruch laut werden, damit der Schwachsinn nicht zur Mode wird.
Amüsant ist, dass die APS verzweifelt beteuert, Thema des Kongresses sei nicht Homosexualität, sondern Identität (was die Sache natürlich nicht besser macht), während die Initiative in ihrer Erklärung folgendes dummdreist herumposaunt:
Es ist ein Widerspruch, wenn durch die Gender-Mainstreaming-Bewegung propagiert wird, der Mensch könne und solle sein Geschlecht und seine sexuelle Orientierung (homo-, bi- oder transsexuell) frei wählen, andererseits aber die Möglichkeit zur Veränderung von der Homosexualität zur Heterosexualität geleugnet wird und konkrete therapeutische Angebote für Menschen, die eben dies anstreben, unterdrückt werden.
Scheint die APS selbst nicht zu glauben, dass es auf ihrem Kongress um Homo-Heilung gehen soll, so glauben zahlreiche UnterstützerInnen der Veranstaltung dies anscheinend sehr wohl – ebenso eine Reihe von zum Kongress geladenen ReferentInnen, die die Erklärung unterzeichnet haben. Bei so viel ideologischem Schwurbel und strategischer Planlosigkeit darf natürlich auch die extreme Rechte nicht fehlen, die ob der Anschlussfähigkeit ihrer eigenen Positionen an die des Kongresses derzeit mit feuchten Flecken am Hosenlatz durch die Medienlandschaft stolziert: Andreas Molau, seines Zeichens ehemaliger Kandidat für den NPD-Parteivorsitz und jetziger DVU-Sprecher, hat zum Kongress solches abgesondert und setzt damit gleich noch einen drauf:
Denn es geht eben nicht nur um die Therapiefreiheit von Homosexuellen, die ihre Veranlagung als belastend empfinden. Es geht darum, dass unsere Kultur dadurch belastet wird, dass Randgruppen zunehmend über das Maß der richtigen Toleranzforderung hinausgehen und ihre Maßstäbe zum Maßstab der Allgemeinheit machen.
Zieht also ziemlich weite Kreise, die Sache, vor allem nach rechts außen. Da darf die schweigende Mehrheit, der aus der Mitte der Gesellschaft kommende Extremismus natürlich nicht abseits stehen (das wäre ja auch eine contradictio in se), und so haben, ähem, »engagierte Marbürger Bürger« ein Blog aufgemacht – jedoch nur um sich in ihren eigenen verplanten Kommunikationsguerilla-Taktiken zu verheddern, wie man dort sehr schön beobachten kann. Kritische Kommentare sind auf diesem Blog, bei dem ganz oben die Meinungsfreiheit als fettes Schlagwort prangt, übrigens nicht willkommen, das habe ich schon ausprobiert.

Und warum schreibe ich das alles hier, wo es doch um spekulative Literatur und Verwandtes gehen soll? Nun, mittlerweile hat das von den Homophoben entfachte Spektakel die Peripherien der Fantasy- und SF-Szene erreicht. So hat Marcus Hammerschmitt einen lesenswerten Artikel zum Kongress in der Telepolis veröffentlicht und darin kundgetan, dass die als Referentin geladene Gabriele Kuby zu den berüchtigten Harry-Potter-HexenverbrennerInnen gehört. Ihr wisst schon, in HP tauchen Zauberer auf, also geht's darin um Okkultismus, also verfallen die HP-lesenden Kids allesamt dem Satan und ...

... der Untergang des christlichen Abendlandes ist nahe. Das ist er zwar schon recht lange, wenn man dem (un-)geistigen Milieu, dem Kuby & Co. entsprungen sind, Glauben schenkt. Aber schließlich, wenn das Abendland denn einmal untergeht, dann sind wir diesem Untergang in jedem Moment ein wenig näher, oder nicht? Ein Zitat von Kuby:
Hogwarts, die Schule für Zauberei und Hexerei, ist eine geschlossene Welt der Gewalt und des Grauens, der Verfluchung und der Verhexung, der Rassenideologie und des Blutopfers, des Ekels und der Besessenheit.
Darin wird wohl deutlich, dass Tante Kuby sich die Hölle – ja, wie Hogwarts vorstellt. Unter dieser Prämisse wäre die Hölle glatt ein angenehmer Aufenthaltsort, schon deshalb, weil man ihn sich nicht mit Leuten wie Kuby teilen muss. Den Himmel stellt sich die katholische Rechtsauslegerin vermutlich, wie man in Anlehnung an ein Diktum von Jorge Luis Borges sagen möchte, wie den Vatikan vor ...

Lobend zitiert kreuz.net einen lettischen Kardinal mit den auf homosexuelle Menschen gemünzten Worten:
Die Hölle ist zwar der Ort grenzenlosen Leidens, aber es fehlt dennoch nicht an Anwärtern, die unbedingt in die Hölle möchten.
Ob Homophobie oder Potter-Paranoia – an dem einen oder anderen Punkt finden die Spinner aller Schattierungen anscheinend stets irgendwie zusammen.

Pressespiegel

Dienstag, 12. Mai 2009

Sieh da, ein Bestseller

Schon vor einigen Wochen im New York Observer gefunden: die Ankündigung des neuen Dan Brown. Und was lese ich da?
According to Mr. Brown’s editor, Jason Kauffman, The Lost Symbol takes place in a 12-hour period.
Aha, weiß Bescheid. Der Harvard-Symbolololologe Robert Langdon hat nur zwölf Stunden Zeit, um die Jesuiten daran zu hindern, die Französische Revolution anzuzetteln. Wenn das nicht nach einer spannenden Verfolgungsjagd rund um die Sightseeing-Attraktionen von Paris aussieht. In seiner Mission unterstützt wird Langdon übrigens von dem geheimnisvollen Loyolus von Ignatia. Doch kann der Prof sich sicher sein, dass Loyolus auch wirklich auf seiner Seite steht und kein doppeltes Spiel spielt?

Die Französische Revolution habe schon längst stattgefunden, sagt ihr? Vor 200 Jahren? Es würde keinen Sinn machen, wenn Dan Brown einen solchen Plot verfasste, meint ihr? Wer das glaubt, wird wohl auch behaupten, dass Bielefeld nicht nur auf der Landkarte existiert.

Fuck … even Tolkien’s gone grim & gritty now!

Vor sieben Tagen und Nächten erschien The Legend of Sigurd and Gudrún von J.R.R. Tolkien, zur Bestätigung der Tendenz, dass dessen posthumer literarischer Output höher ist als zu seinen Lebzeiten. Das Buch enthält zwei Gedichte (Völsungakviða en nýja »Das neue Völsungenlied« und Guðrúnarkviða en nýja »Das neue Gudrúnslied«) Tolkiens, basierend auf den eddischen Sagen von Sigurd dem Drachentöter, verfasst im altisländischen alliterierenden Versmaß. Die Geschichte von Sigurd, Brynhild und Gudrún lässt sich größtenteils auch anderenorts nachlesen (nicht zuletzt im Nibelungenlied), doch Tolkiens Absicht war es, das unvollständige Quellenmaterial, das schon mit Ruinen verglichen wurde, zu ordnen, zu ergänzen und in einer Fassung aus einer Feder zu vereinen.
Der Aberwitz dieses Unternehmens wird noch gesteigert dadurch, dass es funktioniert: Dass wir heute wieder eine zusammenhängende Geschichte lesen können, die die letzten Jahrhunderte in Trümmern lag. Aber bei Tolkien muss mit solchen Aberwitzigkeiten gerechnet werden – war er es doch, der die heute quasi-standardmäßig verwendeten Pluralformen elves und dwarves (re-)etabliert hat.

Und noch eine Tendenz scheint sich auf Sigurd & Gudrún auszuwirken (natürlich nur scheinbar; Christopher Tolkien vermutet die Entstehung der Gedichte in den frühen 1930er Jahren): Die grim & gritty-Fantasy:
Als Atli der Hunnenkönig die Brüder seiner Frau Gudrún tötet, obwohl diese ihn um ihrer gemeinsamen Söhne Erp und Eitill Willen um Gnade für ihre Brüder gebeten hatte, folgt die Rache auf dem Fuße:

Gudrún:
‘Hail, O Hun-king, | hear me speaking:
My brethren are slain | that I begged of thee.
Erp and Eitill | dost thou ask to look on?
Ask no longer – | their end hath come!

Their hearts thou tastest | with honey mingled,
their blood was blent | in the bowls I gave;
those bowls their skulls | bound with silver,
their bones thy hounds | have burst with teeth.’


Sowieso scheint Ódin der einzige zu sein, der die Geschichte überlebt. Alle anderen bringen sich gegenseitig oder selbst um, aus Rache, Liebe oder Gier. Eine schöne Darstellung des edlen nordischen Geistes.

Sehr viel mehr brauche ich nicht berichten über den neuen Tolkien, denn Tom Shippey (hier im Times Literary Supplement) und John Garth (dort in The Times) haben bereits so manches kluge Wort über den ›neuen Tolkien‹ verloren.

Diesen bleibt nicht mehr viel hinzuzufügen – zwei Hinweise zum Inhalt seien allerdings erlaubt:
  1. Die Gedichte sind nicht durchgehend unverständlich – im Gegenteil, man mag hier oder dort über eine seltsame Wendung stolpern oder eine Zeile nicht verstehen – aber das ist die Ausnahme. Der Großteil des Textes liest sich angenehm flüssig.
    Inhaltlich erscheinen die Gedichte beim ersten Lesen teilweise undurchschaubar. Dem schafft Christopher Tolkien mit seinen exzellenten Kommentaren Abhilfe, so dass man sich zügig in die Gedankenwelt der Verfasser (sowohl der alten wie auch des neuen) einlesen kann.
  2. Die Gedichte sind nicht lang. Das Buch bringt es zwar auf 377 Seiten, von denen die Gedichte aber gerade mal ungefähr die Hälfte ausmachen – gesetzt mit so viel Weißraum, dass ausreichend Platz bleibt für persönliche Notizen. Auch inklusive der erhellenden Kommentare, Einleitungen und Anhänge kostete mich die Lektüre nicht länger als zwei Tage.
Ansonsten ist das Buch ansprechend und anspruchsvoll gestaltet. Die Illustrationen von Bill Sanderson, basierend auf den geschnitzten Türpfosten einer Kirche aus dem 12. Jahrhundert, fügen sich schön in das Buch ein, und ähneln – als Nachschöpfung alter Vorlagen – Tolkiens Gedichten. Warum allerdings die Darstellung von Regins Tod – im Gegensatz zu den anderen Illustrationen – aus der Erzählreihenfolge tanzt, bleibt wohl ein Geheimnis der Herstellungsabteilung von HarperCollins. Dafür ist das Frontispiz – die Reproduktion einer Manuskriptseite aus dem Guðrúnarkviða en nýja – eine nette Aufwertung und eine Erinnerung daran, dass Tolkiens Handschrift nicht immer unleserlich war.
Mit milder Verwunderung betrachte ich, dass die Überschriften der Abschnitte des Buches auf jeweils zwei aufeinanderfolgenden Seiten exakt wiederholt werden – dafür, meine ich, hätte mit etwas Kreativität eine elegantere Lösung gefunden werden. Ebenso verwundert bin ich darüber, dass in den Kommentaren, Vor- und Nachwörtern grazile Vignetten zur Einteilung in Abschnitte verwendet werden, in den Gedichten dann aber billig wirkende Asteriske ausreichen müssen. Vielleicht hat HarperCollins die Zeiten des Bleisatz nicht ganz überwunden und rechnet noch mit begrenzten Kontingenten einzelner Lettern.
Auch sonst fallen einige Satzfehler ins Auge, besonders fehlen hier und dort Anführungszeichen. Schade. Denn diese Makel haben nichts verloren in einem so gelungenen Gesamtkunstwerk aus genialer epischer Poesie und gebündeltem, zugänglich präsentierten Fachwissen.

Mittwoch, 6. Mai 2009

Christopher Tolkien äußert sich zum neuen JRRT

Der britische Guardian hat ein Interview mit Christopher Tolkien online gestellt, in dem sich des Meisters Sohn über die neue JRRT-Publikation The Legend of Sigurd and Gudrún äußert. Das ist eine Rarität, denn Tolkien junior ist normalerweise sehr pressescheu. Hier spricht er nicht nur über die Neuerscheinung, sondern auch über seine Editionsarbeit am Silmarillion, an der HoME und den Children of Húrin. Das Interview wurde per Fax geführt.

Hier geht es zum Artikel, hier direkt zum Interview.

Nebenbei möchte ich bemerken, dass seit einigen Tagen der sich an die Peter-Jackson-Trilogie anlehnende Fan-Film The Hunt for Gollum im Netz verfügbar ist. Hier und hier kann über den Film diskutiert werden. Viel Spaß damit.

Sonntag, 19. April 2009

James Graham Ballard R.I.P.

Der britische New-Wave-Autor J.G. Ballard (geboren am 15. November 1930 in Shanghai) ist heute nach langer Krankheit im Alter von 78 Jahren gestorben.

Ballard war eine derjenigen SF-Größen, die sich – wie Stanisław Lem, Kurt Vonnegut, Philip K. Dick und Carl Amery – auch außerhalb von Genre-Liebhaberkreisen unauslöschlich ins literarische Gedächtnis eingeprägt haben. Sein Einfluss war und ist enorm, als Beispiel sei nur der giftig-geniale hoax »Why I Want to Fuck Ronald Reagan« genannt. Unsterblich war er auch schon, bevor der Krebs ihn dahinraffte.

BBC-Meldung
BBC-Nachruf

Dienstag, 14. April 2009

Die Vampire

Weil ich gar nicht aufhören kann, Kim Newman und seine Vampire in den Himmel zu loben, und ich mich hier und öfter über den britischen Trash-Gott bereits mit unkritischen Lobhudeleien geäußert habe, folgt hier noch die förmliche Rezension.

Die Vampire ist, anders als vom Verlag angegeben, kein Roman, sondern eine Omnibus-Ausgabe der drei bisher erschienen Anno-Dracula-Romane:
  • Anno Dracula (1992)
  • The Bloody Red Baron (1995)
  • Dracula Cha Cha Cha (in den USA als Judgment of Tears erschienen) (1998)
Ob der im Hause Heyne ausgiebig gefrönten Neigung, auf so ziemlich alles — von der Storysammlung bis zur Omnibus-Edition — die Bezeichnung Roman anzuwenden, sich mit einem traumatischen Ereignis aus der Kindheit des zuständigen Verlagsmenschen erklären lässt, weiß ich nicht. Jedenfalls sind die beiden ersten Romane als Hardcover im Haffmans Verlag in deutscher Übersetzung erschienen; zu einer deutschen Ausgabe des abschließenden Bandes hat es anscheinend nicht mehr gereicht. Von Anno Dracula hat Heyne dann noch ein Taschenbuch nachgereicht, über das ich mit Newman bekannt wurde. Übersetzt wurden die beiden deutschen Ausgaben von Thomas Mohr.

Der in der Omnibus-Ausgabe erstmals auf Deutsch erhältliche dritte Roman hat dementsprechend mit Frank Böhmert einen anderen Übersetzer. Von geringen, nicht weiter störenden terminologischen Unterschieden einmal abgesehen, fügt seine Arbeit sich gut ins Bild ein. Da gibt’s wirklich nix zu meckern.

Auf den Inhalt der Romane muss ich mich wohl nicht  mehr eigens eingehen. Wer Newmans Trickkiste noch nicht kennt, möge sich überraschen lassen! Ansonsten bin ich ja bereits einige Gedanken dazu losgeworden, siehe oben.

Das Cover der neuen Ausgabe ist dagegen ziemlich abstoßend, was vor allem der traurigen Tatsache geschuldet ist, dass der Newman-Omnibus auf der Zwergetrolleorkselfen-Welle vermarktet wird. Nehmen wir’s als ästhetisch fragwürdige Erinnerung daran, dass Literatur unter kapitalistischen Bedingungen produziert und veröffentlicht wird.

Die Vampire von Kim Newman (1280 Seiten) ist 2009 bei Heyne erschienen. Die Übersetzungen sind von Thomas Mohr (Band 1 & 2) und Frank Böhmert (Band 3).

Amazon.com hat Angst vor Schwulen und Lesben

Es dürfte sich ja rumgesprochen haben, dass Amazon.com (also die US-Variante des Online-Buchhändlers) Bücher, die Homosexualität thematisieren, für einige Tage von seinen hauseigenen Bestsellerlisten entfernt hat. Bei Amazon.com behauptet man, schuld sei ein Fehler im Computersystem. Ich will mich hier gar nicht länger darüber auslassen, ob ich das für glaubwürdig halte oder nicht, denn diese Affäre ist eher der Anlass als der Grund für diesen Eintrag.

Der Grund ist: Ich bin der Meinung, dass Amazon getreten werden muss, wo man kann. Warum dies? Verkürzt-kapitalismuskritisches Konzern-Bashing will ich mit Sicherheit nicht betreiben, doch liegt das Problem mit Amazon auch anderswo als in seiner wirtschaftlichen Monopolstellung: dass Amazon mittlerweile praktisch die Definitionshoheit darüber hat, welche Bücher erwerbbar sind (und das heißt ja mehr oder weniger: welche Bücher lesbar sind), ist der Kern des Problems. Mal ehrlich, wer sucht heutzutage noch anderswo, wenn ein Buch auf Amazon als nicht erhältlich gelistet ist? Mit Ausnahme von Bibliophilen und regelmäßigen AntiquariatsbenutzerInnen wohl niemand. Das heißt in der Konsequenz aber, dass Amazon einen gigantischen Einfluss auf das Leseverhalten des am Internet hängenden Teils der Menschheit hat. Und die Methoden, mit denen dieser Einfluss ausgeübt wird, sind auch nicht immer sauber: In den Kundenrezensionen, die auf Amazon alle veröffentlichen können, die dort irgendwann mal ein Buch bestellt haben, bewerben AutorInnen und Verlage mitunter auch recht zweifelhafter Publikationen ihre Machwerke ungeniert. Auch wird dumpfbackig-faschistoide Denke in einigen Kundenrezensionen offen zum Ausdruck gebracht. Ich erinnere mich insbesondere an eine Rezension auf Amazon.de, deren AutorIn sich überschwänglich freute, dass Franco Zeffirellis Film-Vierteiler Jesus von Nazareth endlich sichtbar mache, dass (O-Ton) »die Juden« schuld am Kreuzestod Jesu seien. Trotz wiederholter Hinweise dauerte es Monate, bis Amazon.de die antisemitische Rezension von seiner Seite entfernte.

Deshalb wird auf diesem Blog in Rezensionen nicht zu Amazon verlinkt. Wer’s noch nicht weiß: Nach lieferbaren Büchern kann man auch auf den entsprechenden Verlagsseiten gucken. Wird das Gesuchte nicht mehr aufgelegt, hilft das Zentrale Verzeichnis Antiquarischer Bücher.

Samstag, 11. April 2009

Neues vom Dunklen Turm

Soeben bin ich darauf aufmerksam gemacht worden, dass der zweite Band der Graphic Novel frei nach Stephen King bereits bei Heyne erschienen ist, in diesem Monat nämlich. Der deutsche Titel von The Long Road Home lautet Der lange Heimweg. Team (inklusive Übersetzer) und Verlag sind die gleichen wie beim ersten Band.

Anubis tickt manchmal eben, wie verschiedentlich schon bemerkt, etwas langsamer. In diesem Sinne: Dank an Herrn Rottenecker für den freundlichen Hinweis.

Freitag, 10. April 2009

Der Dunkle Turm – Graphic Novel

Obwohl sein Name dick und fett auf dem Cover prangt, hat Stephen King selbst nur die Idee zu diesem ersten Band einer auf seinem Meta-Epos The Dark Tower basierenden Graphic Novel geliefert. Geplottet wurde das Ding von Robin Furth, ihres Zeichens Assistentin im Hause King und Autorin des offiziellen Companions zu The Dark Tower. Optimale Voraussetzungen also, dass der Comic schön dicht am Romanzyklus bleibt, obwohl sich die Mitwirkung des Autors schätzungsweise auf ein Minimum beschränken dürfte.

Marvel-Zeichner Jae Lee hat genau die richtige Bildsprache gefunden, um Roland Deschains weird west Gestalt zu verleihen. Mir gefällt insbesondere der Look von Gilead als monumentaler Ruinenstadt. Bei der Lektüre der Romane habe ich mir ja nie so recht vorstellen können, wie der Sitz von Kings revolverschwingenden Gralsrittern denn nun aussieht. Lee, der übrigens eine Dracula-Ausgabe illustrierte, hat mich genialisch belehrt.

Zwecks Verwirrungsvermeidung noch ein paar Worte: Bei dem Ding, das hier unter dem Namen Der Dunkle Turm – Graphic Novel rezensiert wird, handelt es sich um The Gunslinger Born (2007), den ersten Teil einer Reihe, von der im Original bereits zwei weitere Teile unter den Titeln The Long Road Home und Treachery (beide 2008) erschienen sind. Ob die Entscheidung, den Reihentitel für einen einzelnen Band zu verwursten, intelligent ist, sei dahingestellt. Jedenfalls kann Heyne ruhig mehr von dem Zeug veröffentlichen. Inhaltlich entspricht The Gunslinger Born in etwa Rolands Jugenderinnerungen in Wizard and Glass, dem vierten Dark-Tower-Roman. Der Comic erzählt die Handlung also, anders als die Romane, chronologisch.

Der Dunkle Turm – Graphic Novel von Stephen King (Idee), Robin Furth (Story), Peter David (Skript), Jae Lee (Zeichnungen) und Richard Isanove (Kolorierungen) ist 2008 bei Heyne erschienen. Die Übersetzung stammt von Wulf Bergner.

Donnerstag, 9. April 2009

Der Potterjunge und seine Klone

Alle sieben Bände sind veröffentlicht, das dritte Spin-off ist rausgehauen, nun stehen uns nur noch zwei mediokre Filme ins Haus. Dumbledores Coming-out ist auch schon eine Weile her, und so ist die allgemeine Aufregung abgeflaut. Zeit für mich, so dachte ich, mal einen historiografisch motivierten Blick in eine der zahlreichen phantastischen Internatsromanserien der letzten Jahre zu werfen. Zunächst lernte ich, dass im Kielwasser von Joanne K. Rowlings Harry Potter unter anderem Angie Sages Septimus Heap, Peter Freunds Laura Leander, Georgia Byngs Molly Moon und Jenny Nimmos Charlie Bone ihre schattenhafte Existenz fristen ...

... und entschied mich spontan für letzteres. Die Titelillustration stammt anscheinend aus der selben Hand wie die der deutschen HP-Ausgabe. Wenn schon Potter-Klon, dann richtig, dachte ich mir. Charlie Bone heißt im Original Children of the Red King und umfasst bislang sieben Bände.

Ich schlug den ersten Band Charlie Bone und das Geheimnis der sprechenden Bilder auf, freute mich ein wenig über den schön mythisch-atmosphärischen Einstieg, las 200 Seiten und dachte währenddessen, dass das ja eigentlich eine ganz nette, auch eine HP-vergleichsweise eigenständige und eingängige Lektüre ist. Tja, und dann war Schluss. Charlie kam zum ersten Schultag in sein Internat, lernte einige MitschülerInnen (darunter die obligatorischen Piesacker) sowie exzentrische Lehrkräfte kennen, und ich hatte keinen Bock mehr.

Ich stellte fest, dass mich diese Schulquerelen einfach nicht interessierten, und ich folgerichtig nicht die geringste Lust hatte, weiterzulesen. Ach ja. Manche Dinge funktionieren anscheinend nur einmal. Also Schluss damit.

Charlie Bone und das Geheimnis der sprechenden Bilder (352 Seiten) von Jenny Nimmo ist 2003 bei Ravensburger erschienen. Die Übersetzung stammt von Cornelia Hohlfelder-von der Tann.

Samstag, 4. April 2009

Medienschelte, die Dritte

Im Blogschke gibt es wieder mal eine Reaktion aufs Feuilleton, welches diesmal in Person von Titus Arnu gegen die Fantasy ficht (oder jedenfalls gegen das, was man so für Fantasy hält). Wiederum erschienen in der Süddeutschen. Und weil’s so schön ist, setze ich zu dieser Gelegenheit auch mal einen Link zur entsprechenden Diskussion im BP-Forum.

Donnerstag, 26. März 2009

Fantasy macht dumm: 2. Runde

Meine Zustimmung auch zu dieser Polemik des Herrn Plischke, die sich diesmal gegen einen Artikel von Armgard Seegers im Hamburger Abendblatt richtet.

Mich hat gleich aufgeregt, wie die Autorin die Beschäftigung mit Phantastik pauschal als infantilen Regress abtut. Besonders dieses – ich fasse paraphrasierend zusammen – »für Kinder ist die Welt bekanntlich in Ordnung, und deshalb wollen Erwachsene wie Kinder sein« ist absolut brechreizerregend. Und es scheint pünktlich zum letzten Amoklauf richtig in Mode zu kommen, Fantasy mit Computerspielen gleichzusetzen. Da können wir uns ja noch auf was gefasst machen ...

Nicht neu, eher sattsam bekannt, ist dagegen die fein säuberliche Unterteilung in Hochliteratur und Unterhaltungsliteratur, wobei erstere als ›realistisch‹ codiert wird und letztere als ›phantastisch‹, was wiederum als gleichbedeutend mit realitätsfernem Heile-Welt-Gesäusel angesehen wird. Im Unterschied zu vergleichbaren Feuilleton-Ergüssen wird hier allerdings Kinder- und Jugendliteratur generell als Schund abgetan, während man früher gelegentlich den realistisch-sozialkritischen Jugendbüchern eines Max von der Grün, Josef Reding oder Peter Härtling zumindest einen wohlwollenden Seitenblick zuwarf.

Dienstag, 24. März 2009

Über Alan Moore und Kim Newman

Die taz hat zwei interessante Artikel über Alan Moore gebracht, den Mann, der ewig Pech mit seinen Verfilmungen hat: Der eine beruht auf einem Telefoninterview, während der andere (von Georg Seeßlen) die Neuausgabe von From Hell zum Anlass hat. Seeßlens Interpretation des Ripper-Comics als Kommentar zum »Höllenfeuer der Moderne« ließ mich wieder einmal an die andere Bearbeitung des Ripper-Stoffs denken, die kürzlich neu erschienen ist: Kim Newmans Alternativweltroman Anno Dracula. Der Kutscher Netley, in Moores Graphic Novel ein Komplize des Rippers, ist einer der zahlreichen Charaktere, die Newman sich für sein gaslampenbeleuchtetes Allstar-Szenario ausgeborgt hat.

Seeßlen arbeitet den in From Hell dargestellten »Kurzschluss zwischen dem Über-Ich und dem Es« heraus, in dem die Interessen Königin Victorias mit denen des Rippers konvergieren: Der sadistische Mörder hilft mit, die Schwängerung eines Mädchens aus der Unterschicht durch Victorias Sohn Eduard blutig zu vertuschen. Für Seeßlen drückt sich hierin die Ambivalenz der Moderne und ihres Fortschritts aus, deren Mythologisierung – das sei eine weitere Aussage Moores – konsequenterweise nur wahnhafte Züge tragen könne.

In Newmans Alternativgeschichte wird Graf Dracula nicht von Van Helsing & Co. getötet, sondern kann seinen Plan, die Welthauptstadt London zu erobern, in die Tat umsetzen. Er heiratet Königin Victoria und herrscht fortan als Prinzgemahl über das Empire. Nach seiner Vertreibung durch eine geschickt angelegte Intrige, in der wiederum Jack the Ripper eine Rolle spielt, flieht er nach Deutschland, wo er in Kürze zum Reichskanzler aufsteigt und die Hölle des Ersten Weltkriegs entfesselt. Newmans Dracula ist begeistert von Erfindungen und technisch-bürokratischen Kinkerlitzchen wie Luftschiffen und Eisenbahnfahrplänen. Schwärmerisch verherrlicht er die Industrialisierung und Kommodifizierung menschlicher Lebenswelten, nur um in entscheidenden Momenten bruchlos in die blutrünstigen Verhaltensweisen eines frühneuzeitlichen Kriegsherren zurückzufallen. Fortschrittsgläubigkeit und Barbarei gehen eine perfekte Symbiose ein. Im Laufe der Erzählung wird Dracula, der die ersten Konzentrationslager Europas einführt, zum typologischen Vorbild der großen Massenmörder des 20. Jahrhunderts, der Hitlers und Stalins. Und während die Romane des Anno-Dracula-Zyklus stets so aufgebaut sind, dass ein aus der Popkultur oder der Mythengeschichte der Moderne bekannter Serienkiller eine tragende Rolle spielt, so ist dieser doch stets nur eine vergleichsweise unbedeutende Spielfigur, ein Produkt der Verhältnisse, die dafür sorgen, dass ein Dracula an die Schalthebel der Macht gelangen kann.

Beide, Moore wie Newman, haben Kunstwerke geschaffen, die es vermögen, Spuren der »höllenproduzierenden Moderne« (Franz J. Hinkelammert) freizulegen. Es lohnt sich, diesen Spuren nachzugehen.

Montag, 23. März 2009

Waltz with Bashir

Vor etwa zwei Wochen habe ich mir Ari Folmans Waltz with Bashir angesehen. Warum gerade jetzt, könnte man fragen, wo der Film in Deutschland doch schon seit vergangenem Jahr draußen ist. Ganz einfach: Ich habe ihn mir in meinem bevorzugten Programmkino, dem Traumstern in Lich, angesehen. Man erlaube mir also, im etwas langsameren Rhythmus eines Programmkinos zu ticken.

Waltz with Bashir ist ein animierter Dokumentarfilm über den Libanonkrieg von 1982. Während der Belagerung Beiruts durch israelische Truppen (mit dem Ziel, die PLO aus dem Libanon zu vertreiben), begingen mit Israel verbündetete christliche Falange-Milizionäre Massaker in den palästinensischen Flüchtlingslagern Sabra und Schatila. Es handelte sich dabei um eine Racheaktion für die Ermordung des christlichen Milizenführers Bachir Gemayel. Der Film unternimmt nun den Versuch, die Wirkung dieser Ereignisse auf die Psyche der israelischen Soldaten zu erkunden. Der Regisseur Ari Folman, selbst als neunzehnjähriger Soldat an der Belagerung von Beirut beteiligt, interviewte zu diesem Zweck eine Reihe seiner Kriegskameraden, deren Erlebnisse der Film grafisch darstellt, gipfelnd in der klimaktischen Szene, in der ein Israeli einen psychotischen Walzer mit einem Maschinengewehr tanzt – inmitten von feindlichem Feuer, umgeben von gigantischen Porträts Gemayels, während die libanesische Zivilbevölkerung scheinbar unbeteiligt von Balkons und Hausdächern aus zusieht.

Für mich war Waltz with Bashir eines der verstörendsten Filmerlebnisse überhaupt. Ich bin mir selber nicht ganz klar, warum, aber ich habe den Verdacht, dass es hauptsächlich an der Comic-Ästhetik von Folmans Film liegt. Beeinflusst vom Stil Joe Saccos, reizt Waltz with Bashir die Möglichkeiten der Graphic Novel voll aus: in der Darstellung wie in den zahlreichen Anspielungen und Referenzen, etwa auf Apocalypse Now, auf Catch-22 oder typische Porno-Szenen, die zugleich persifliert und in einen tieferen Zusammenhang mit dem dargestellten Kriegsgeschen gestellt werden. So berichtet Folman, dass viele israelische Soldaten während des Libanonkrieges zum ersten Mal Pornofilme gesehen hätten, weil es 1982 noch kein VCR in Israel gab.

Es ist die permanente Unsicherheit, ob Waltz with Bashir eine Graphic Novel im Film ist, die so tut, als ob sie ein Dokumentarfilm wäre, oder vielmehr ein Dokumentarfilm, der sich als Graphic Novel verkleidet, die dem Publikum das wohlige Sicherheitsgefühl verwehrt, in dem man sich wiegt, wenn man einen Spielfilm betrachtet. Dieses Sicherheitsgefühl, das einen Spielfilme (und nicht selten auch Reportagen) als Fiktion erleben lässt, fällt bei Waltz with Bashir völlig weg. Denn Folman unternimmt gar nicht erst den Versuch, durch Hyperrealismus eine vermeintliche Realität vorzugaukeln, die man doch immer fein säuberlich vom eigenen Erleben trennen kann. Nicht anders funktioniert das Gros der Dokumentarfilme, doch in Waltz with Bashir gibt es keinen Realismus, sondern nur albtraumhaftes Erleben, interpretiert und dargebracht durch popkulturelle Referenzen, durch den Schnitt auf die Bildzeugnisse des Massakers – in all ihrer hochgradigen Selektivität – am Ende des Films, und durch Bildmetaphern, die tief ins kulturelle Verdächtnis hineinreichen, und zwar bis ins Herz der Finsternis: Wagen um Wagen voller Menschen, die in eine Richtung fahren – und leere Wagen, die wieder zurückfahren. Dies macht es wahrhaft unmöglich, sich zu distanzieren, denn Folmans Albträume sind auch die unseren, nur dass sie bei Folman einmal im Wachen durchlebt worden sind. Jedoch: Wer meint, dass zwischen dem wachenden und dem träumenden Erleben kein Unterschied ist, hat ziemlich wenig begriffen.

Ich bin mir ganz und gar nicht sicher, ob ich das mag oder auch nur gut finde. Vor allem bezüglich der Anspielungen auf den Nazismus und den Holocaust bin ich das nicht. Gleichzeitig weiß ich, dass Waltz with Bashir in der Wahl seiner Darstellungsmittel nur allzu folgerichtig ist, denn der geeignete Modus zur Abbildung seelischer Traumata ist das Phantastische, von Kafka bis Vonnegut. Dies ist der Grund dafür, warum das 20. Jahrhundert ein Jahrhundert der Phantastik war, und warum das 21. Jahrhundert ein ebensolches sein wird.

Dienstag, 17. März 2009

Die wilde Weinhart und ihre sagenhaften Serientäter

Thomas Plischke hat in seinem Blog einen trefflichen Kommentar zu Susanne Weinharts kürzlich in der Süddeutschen Zeitung veröffentlichten Ergüssen über unser aller Lieblingsliteratur abgeliefert. Da – im Bibliotheka-Phantastika-Forum – im Namen des Autors um Verbreitung des Kommentars gebeten wurde, setze ich doch gleich mal mit Vergnügen einen Link dorthin. Es ist wohl nicht übertrieben, wenn man annimmt, dass Weinharts Geschreibsel einen vorläufigen Tiefpunkt der Fantasy-Rezeption in den deutschen Qualitätszeitungen markiert. Selten so viel Unsinn, Unwissenheit und Unkenruferei (ja ja, nicht nur bayrische Feuilletonistinnen können beknackte Alliterationen zustande bringen ...) in einem Artikel versammelt gesehen. Mein aufrichtiger Dank geht deshalb an Herrn Plischke, der sich die Mühe gemacht hat, tief in diese dämmerigen Grüfte des Geistes hinabzusteigen, um sie bissig und treffsicher zu kommentieren.

Donnerstag, 12. März 2009

Es geht rund ...

... in den vernetzten Kreisen, in denen epische Fantasy geschrieben, gelesen und kritisiert wird. Am 19. Februar veröffentlichte George R.R. Martin in seinem Not a Blog einen "To My Detractors" betitelten Eintrag als Reaktion auf die zahlreichen Hate-Mails und unfreundlichen Internetdiskussionen, die sich auf seinen – sich immer länger hinziehenden und stetig weiter ausdehnenden – Song of Ice and Fire beziehen. Den unmittelbaren Anlass dazu bot ein Posting GRRMs vom gleichen Tag, mit dem er seine Verspätungen zum wiederholten Male erklären wollte. Dieser Erklärungsversuch brachte die Suppe anscheinend dermaßen zum Kochen, dass Martin sich genötigt fühlte, die aufgebrachte Meute persönlich anzusprechen. Erwähnt werden muss natürlich auch, dass Martin einen Haufen Support bekam, für den er sich umgehend bedankte.

Vorangegangen war dieser Kontroverse ein Artikel von Shawn Speakman auf Suvudu "In Defense of George R.R. Martin" vom 26. Januar, der als Interpretationsversuch von Martins Schreib- und Veröffentlichungsschwierigkeiten gesehen werden kann (man verzeihe mir, dass ich nun schon zum wiederholten Male auf diesen Artikel hinweise). Und bereits am 14. Januar wurde auf The Cimmerian versucht zu ergründen, welchen Einfluss Martin denn nun eigentlich auf die rezente Entwicklung des Genres hatte.

An sich ist es nicht weiter verwunderlich, dass dieses Thema jetzt, zu Beginn des Jahres, auf den Tisch kommt, denn bekanntlich heißt Jahresbeginn in der Regel, dass wieder zwölf Monate ohne einen neuen ASoIaF-Band vergangen sind. Wobei ich, nebenbei bemerkt, immer noch nicht verstehe, wie man seine Zeit, ob vernetzt oder nicht, scheinbar ausschließlich mit dem Warten auf ein einziges (!) Buch verbringen kann. Eine Bringschuld des Autors gegenüber seiner Leserschaft gibt es in meinen Augen nicht (das wäre ja tödlich fürs Talent), und lange Pausen zwischen Reihen-Veröffentlichungsterminen gelassen hinzunehmen, erspart Enttäuschungen. Aber ich denke, es steckt noch ein wenig mehr dahinter, und Guy Gavriel Kay ist dem auf der Spur.

In einem Artikel in der Online-Ausgabe der kanadischen Zeitung The Globe and Mail weist Kay darauf hin, dass wir keineswegs an einer vom Himmel gefallenen Seuche leiden, die infizierte Autoren dazu bringt, mit Veröffentlichungsterminen zu schludern und ihre Fans zu beschimpfen (neben George R.R. Martin sah sich auch Patrick Rothfuss jüngst diesem Verdacht ausgesetzt), sondern dass wir mit dem bloggenden Autoren, der fest in die kommunikativen Strukturen des Internets eingebunden ist, einfach eine völlig neue Situation vor uns haben, was die Interaktion zwischen AutorInnen und LeserInnen angeht. Da haben wir den Fall der Autorin, die sich durch Amazon-Kundenrezensionen ungerecht behandelt fühlte und deshalb ihre Fan-Base aufforderte, eigene Reviews auf Amazon zu schreiben und negatives Feedback für allzu kritische Rezis abzugeben. Da sind die Fans von Stephenie Meyer, die nach Stephen Kings kritischen Interview-Äußerungen gegenüber ihrem Idol drohten, King mit Hate-Mails zu überschütten. Und da sind eben die zahlreichen Diskussionen über George R.R. Martin, in denen ohne jede Scham darüber debattiert wird, ob sein Gesundheitszustand und seine privatesten Gewohnheiten es zulassen, dass er ASoIaF beendet. Guy Kay bringt diese Exempel allesamt an. Als weitere Beispiele, wie auch Autoren aktiv in solche Diskurse eintreten, können vielleicht Richard Morgan und jener Sachbuchautor gelten, der zunächst sein eigenes Buch bei Amazon selbst mit der Höchstbewertung rezensiert und dann sämtliche kritischen Kundenbewertungen mit wüsten Beschimpfungen kommentiert. Diese Vereinnahmung von Lesern durch Autoren, und von Autoren durch Leser, ist das eigentlich Neue.

Ich fühle mich dabei ein wenig an Umberto Ecos Spekulationen über den Eintritt in ein neues Mittelalter erinnert, der mit der 68er-Bewegung begonnen habe. Eco beschreibt diese Sehnsucht nach dem neuen Mittelalter als die Suche nach einer gemeinsamen Sprache, einem überindividuellen, alle Menschen verbindenden Prinzip des Ausdrucks. Bisher hat kein philosophischer oder gesellschaftlicher Diskurs es geschafft, die Rolle dieser Sprache, in der alles auf allen verständliche Weise sagbar ist, einzunehmen (obwohl es im 20. Jahrhundert an den entsprechenden Versuchen wahrlich nicht gemangelt hat). Ein Medium, in dem dies möglich wäre, haben wir aber bereits: das Internet, den Raum grenzenloser Kommunikation, den nicht zufällig der Prophet unserer Postmoderne, Jorge Luis Borges, in seinen Schriften vorweggenommen hat. In Zeiten des Internets ist ein Roman eben nicht mehr nur individueller sprachlicher Ausdruck seines Autors, sondern aller Menschen, die ihn gelesen haben und sich durch das Medium universaler Kommunikation berechtigt fühlen, an diesem sprachlichen Ausdruck teilzuhaben und ihn mitzubestimmen. Dass dabei dem Autor mitunter ein fester Platz zugewiesen wird, eine Rolle, die ihn einengt und ihm nicht gefällt, kann nicht ausbleiben. Einen solchen festen Platz hatten auch die Menschen in der universal sprachfähigen mittelalterlichen Gesellschaft, von der Leibeigenen bis zum Feudalherren. Wehe dem, der seinem zugewiesenen Platz nicht gerecht wurde!

Mittwoch, 11. März 2009

Wird der Hype sich lohnen?

Häha, ich wollte schon immer mal einen Artikel mit einer Suggestivfrage als Titel schreiben ...

Diesen Monat ist unter dem Titel Die Vampire bei Heyne ein Sammelband mit den drei bereits fertiggestellten Romanen von Kim Newmans Anno-Dracula-Reihe erschienen: Anno Dracula (1992), The Bloody Red Baron (1995) und Dracula Cha Cha Cha (1998; in den USA Judgment of Tears betitelt). Letzterer ist meines Wissens in diesem Sammelband erstmals in deutscher Übersetzung erhältlich. Newmans verspielte Gaslight Romances seien hiermit ausdrücklich empfohlen. Wer schon immer genervt war von den schier endlosen, nach Mittelerde-Kreaturen benannten Romanserien, sollte jetzt über seinen Schatten springen und zugreifen.

Die Zwerge, Drachen und Trolle, die derzeit die Fantasy-Ecken der Buchläden blockieren, haben wir bekanntermaßen einem Herrn namens Stan Nicholls zu verdanken. Der warf um die Jahrtausendwende rum ein paar Romane auf den Markt, die sich nicht sonderlich gut verkauften, bis sein deutscher Verleger auf die Idee kam, die Dinger damit zu bewerben, dass sie gewissermaßen eine inoffizielle Fortsetzung des LotR seien. Und weil dies die Zeit war, in der Peter Jacksons Tolkien-Verfilmungen im Kino liefen, funktionierte der nicht sonderlich subtile Trick besser, als wohl irgendjemand erwartet hätte. Und die Folgen dieser Marketing-Strategie gehen uns momentan allen ziemlich auf die Nüsse.

Es ist eine Ironie des Schicksals, dass der in Deutschland bislang sträflich missachtete Newman nun ausgerechnet auf der Welle dieser als Tolkien-Klone vermarkteten Papierschwemme etwas breitere Anerkennung gewinnen könnte. Die Aufmachung des Sammelbands ist jedenfalls zu 100% auf Kundenfang ausgerichtet: Auf dem Cover steckt diesmal keine Axt und auch kein Schwert im Boden, dafür aber ein angespitztes Kreuz. Zum Davonlaufen also. Aber wenn’s hilft ...

Wer weiß, vielleicht könnte ein Verkaufs-Boost auf dem deutschen Markt ja sogar die Prozesse etwas beschleunigen, die hoffentlich irgendwann mal zur Fertigstellung und Veröffentlichung des vierten, abschließenden Anno-Dracula-Bandes, Johnny Alucard, führen? Der ist seit 2000 angekündigt und lässt ganz schön auf sich warten.

Der gute JRRT, dessen Leiche momentan auf eine Weise gefleddert wird, dass sich wohl der Fürst der Ghule selbst angewidert davon abwenden würde, taucht übrigens im zweiten Anno-Dracula-Band als durchaus lebendiger Weltkriegssoldat auf und sehnt sich gehörig nach seiner Edith. Allen ErstleserInnen Newmans wünsche ich viel Spaß beim Herausfinden, wer sich außer JRRT sonst noch alles in den Nebeln Londons, den Schützengräben des Ersten Weltkriegs und auf den Plätzen Roms herumtreibt.

Mittwoch, 4. März 2009

Torture Porn – ein Nachfahre des Splatterfilms?


Vorsicht, enthält massenhaft Film-Spoiler!

Ältere Semester erinnern sich bestimmt mit Behagen an den sogenannten Splatterfilm. Für die jüngeren Semester sei lediglich kurz bemerkt: Die Technik des Splatterfilms funktionierte etwa so wie die platzenden Gummivampirköpfe in From Dusk till Dawn. Das Gute daran war, dass man sich die exzessiven Gewaltdarstellungen des Splatterfilms ansehen und sie in zweierlei Hinsicht analysieren konnte – man konnte sich a) fragen, wie die Filmleute das gemacht haben und sich über das Ergebnis amüsieren, und b) konnte man überlegen, welche Aussagen der Regisseur damit treffen wollte. Die Spannweite solcher Aussagen reichte von der treffsicheren Gesellschaftskritik George A. Romeros in den Dead-Filmen bis hin zu dem quirligen »Seht her, explodierende Schafe und Zombies, die es auf einem Besenstiel aufgespießt miteinander treiben, sind ein einziger, fröhlicher Spaß!« Peter Jacksons in Bad Taste und Braindead.

Doch solche unschuldigen Zeiten sind längst vorbei. Die bekanntesten Splatterfilmer, Sam Raimi und Peter Jackson, sind im Mainstream gelandet. Die echte Splatter-Atmosphäre gibt es fast nur noch als nostalgische Referenz, etwa in Robert Rodriguez’ Planet Terror und dem bereits erwähntem From Dusk till Dawn (mitsamt Sequels) — oder als misslungenes Remake, wie Zack Snyders Dawn of the Dead. Natürlich, George A. Romero filmt unverdrossen weiter und ist dabei ebenso beständig finanziell erfolglos. Einen Untergrund wird es sicherlich auch geben, über den ich mangels Kenntnissen nichts sagen kann. Ansonsten spricht alle Welt von einem neuen Filmgenre namens Torture Porn, bzw. behauptet, ebendieses Genre sei eigentlich gar kein eigenes Genre, sondern vielmehr eine aktuelle Weiterentwicklung des alten Splatterfilms. »I don’t get the torture porn films,« sagt dagegen Altmeister Romero in einem Interview mit der New York Times, »they’re lacking metaphor.« Grund genug, sich die Sache einmal genauer anzusehen.

Im Mainstream-Kino angekommen ist Torture Porn nicht erst mit Filmen wie Saw und Hostel, denn im Grunde nimmt bereits David Finchers Sieben aus dem Jahre 1995 das wesentliche Moment des neuen Genres vorweg. Dieses wesentliche Element, das sei sogleich gesagt, ist in meinen Augen die Deutung von Gewalt als Erlösungsweg. Gewalt findet im Torture Porn in der Regel so statt, dass Menschen gefoltert oder aber in eine Zwangslage versetzt werden, die sie dazu zwingen soll, andere Menschen zu töten oder grausam zu verletzen. Und wie um es auf die Spitze zu treiben, hat diese Form der Gewalt eine religiöse Funktion. Natürlich nicht immer. Man kann das Genre auch augenzwinkernd behandeln, wie Quentin Tarantino es in Death Proof tut. Aber auffallend ist doch, dass in Torture-Porn-Filmen Gewalt sehr häufig die Form religiöser Handlungen annimmt.

Sieht man sich einen Film wie Sieben an, muss man gar nicht erst auf der moraltheologischen Symbolik der sieben Hauptlaster (oft fälschlicherweise für Todsünden gehalten) herumreiten, um das zu erkennen. Der psychopathische Killer, gespielt von Kevin Spacey, ist in Sieben ein Allerweltsmensch, der sich selbst als erlösungsbedürftig erkennt und, gut individualistisch, sich selbst erlösen will. Dies tut er, indem er eine Reihe von Morden begeht, die nach dem Muster der sieben Hauptlaster angeordnet sind. Beispielsweise zwingt er einen fettleibigen Mann, sich zu Tode zu fressen, und inszeniert auf diese Weise das Laster der Völlerei. Am Ende kommt der ermittelnde Polizist (Brad Pitt), dem Mörder auf die Spur. Dieser schickt dem Ermittler den abgetrennten Kopf seiner Frau per Paketlieferdienst; der Polizist erschießt ihn. Der Killer sah sich dem Laster des Neides verfallen und inszeniert dies durch den Mord an der Ehefrau des Ermittlers. Die Erlösung von seinem Laster ist der Tod, den er sich aus der Hand des Polizisten geben lässt. Ganz nebenbei wird der Polizist, seinerseits zum Mörder geworden, zur Personifikation eines weiteren Lasters: Zorn. Gemäß Paulus im Römerbrief:
Durch das Gesetz kommt die Erkenntnis der Sünde.
(Röm 3,20b)

strebt der Killer danach, alle in das Laster miteinzubeziehen, es aufzudecken, wo er kann. Er macht sich zum Vollstrecker des göttlichen Gesetzes, welches die vom Laster stimulierte Sünde bestraft. Dabei hat er allerdings nicht das Ziel der Erlösung aller vor Augen, sondern die eigene Erlösung, die er durch die Ausweitung der Lasterhaftigkeit auf alle bewerkstelligen will. Seine strafenden, das göttliche Gesetz vollstreckenden Mordtaten, die selbst Außenstehene wie die Ehefrau des Polizisten treffen könnten, sind notwendig, denn »wo das Gesetz nicht ist, da ist auch keine Übertretung« (Röm 4,15b), also kein Laster. Und wo kein Laster ist, kann der Killer nicht sein göttliches Strafgesetz vollstrecken. Er kann nicht Gott spielen. Indem er aber den Polizisten zur Verkörperung des Zorns macht, rechtfertigt sich nachträglich die Einbeziehung eigentlich Unschuldiger, wie des Polizisten und seiner Frau, in das göttliche Strafgericht, in dem der Killer, gleichzeitig göttlicher Vollstrecker und Opfer, zum Erlösten wird.

Die Selbsterlösung des Killers in Sieben mündet darin, dass er Gott spielt. Dieses Gott Spielen ist es, was das religiöse Element im Torture Porn ausmacht. Strafen und Morden wie Gott, die Menschen in ihren Handlungen steuern wie Gott. Mithin eine ganz andere Erfahrung als die Hilflosigkeit und das Ausgeliefertsein, die in unserer Zeit die conditio humana ausmachen. Das Motiv des strafenden, gottgleichen Mörders ist Allgemeingut in Filmen wie Sieben. In einem anderen frühen Vorläufer des Torture-Genres, dem kanadischen Kultfilm Cube, wird eine Gruppe von Menschen in einen riesigen Würfel gesperrt, ein gigantisches Folterwerkzeug voller perfider Fallen, von unsichtbarer – göttlicher! – Hand nach mathematischen Prinzipien gesteuert. Nur einer aus der Gruppe überlebt den Würfel, der Autist Kazan. Am Ende schreitet Kazan rein und unschuldig auf das Licht (den Ausgang aus der Foltermaschine) zu. Er ist erlöst, während alle anderen ob ihrer Falschheit einen blutigen Tod finden. In Saw aus dem Jahre 2004, der eine ganze Welle von Torture-Porn-Filmen auslöste, foltert der krebskranke Killer seine Opfer und zwingt sie dazu, sich gegenseitig umzubringen, um aus ihnen von Dankbarkeit für das Leben erfüllte Geschöpfe zu machen.

Den bisherigen Höhepunkt des Torture Porn stellt allerdings Die Passion Christi Mel Gibsons dar. Der Antisemit und Ultratraditionalist Gibson lässt in mehreren seiner Filme einen folternden bzw. gefolterten Erlöser auftreten oder verkörpert ihn gleich selbst, doch in der Passion ist die religiöse Intensität der Gewalt besonders hoch. Dieser Film dringt in Bereiche vor, wohin die oben genannten Filmbeispiele nicht zu gehen wagten. Denn in ihnen identifizieren sich die ZuschauerInnen meist mit einem Opfer, während wir in der Passion die Perspektive der Folterer einnehmen. Wir dürfen dabeisein, wenn die Peitschen dem Messias das Fleisch zerreißen und wenn sich die Dornen in seine Kopfhaut drücken. Die Folterer handeln im Auftrag Gottes, denn der ist es schließlich, der die qualvolle Opferung seines Sohnes inszeniert. Im Film nehmen die Folterknechte nahezu die Stelle des abwesenden Tyrannengottes ein, die Werkzeuge sind eins mit der Hand, die sie führt. Und da wir den Film aus der Perspektive der Folterer sehen, dürfen wir uns selbst ein klein wenig als sadistisch-göttliches Werkzeug fühlen. Die Passion Christi gipfelt darin, dass einer der Folterknechte sich ekstatisch unter einer aus dem Leib Christi strömenden Blutfontäne windet, wie eine Pornodarstellerin, die am Ende jeder Szene mit weitgeöffnetem Mund den segnenden Sperma-Sprühregen auf ihrem Gesicht empfängt.

Womit wir beim zweiten maßgeblichen Stichwort wären: Es ging ausgiebig um Folter, aber wie ist es um den Porno bestellt? In Tarantinos Death Proof antwortet Ranger Earl McGraw seinem Sohn Edgar auf die Frage nach dem Motiv des sadistischen Killers Stuntman Mike (gespielt von Kurt Russell; er führt absichtlich Auffahrunfälle herbei, in denen junge Frauen schier in Fetzen gerissen werden), es habe wohl etwas mit Sex zu tun. In der Tat gibt es strukturelle Parallelen zwischen Torture Porn und echtem Porno, denn während ersterer die Dialektik von Strafe, Opfer und Erlösung aufnimmt, wie sie für westliche Religiosität kennzeichnend ist, steht letzterer für die kultisch-orgiastische Seite der Religion. Kennzeichnend für diese ist, dass die Restriktionen des Alltags in kathartischer Funktion aufgehoben sind. Für den Augenblick darf die Betrachterin, der Betrachter (selbstverständlich mit nur zu klar verteilten Gender-Rollen) sich vorstellen, so ... äh, dehnbar oder so potent zu sein wie die, die sich da im grellen Licht rituell begatten. Man darf ein Myste sein, der in einen dionysischen Kult eingeführt wird, und am Eingang des Tempels die Frage (nach dem Alter: 18+) richtig beantworten muss, um teilhaben zu können an den Weihespielen des sexuellen Ausnahmezustands.

Auch den grabentiefen Abstand zur Alltagserfahrung haben die filmischen Foltergeschichten und die Weihespiele der Pornografie im Grunde gemein: Denn wie uns allen (einige gänzlich orientierungslose männliche Jugendliche vielleicht ausgenommen) klar ist, dass wir nicht die Fähigkeit haben, das Vögeln zu beherrschen wie im Porno, so fühlen wir uns auch in unseren Lebenswelten und materiellen Reproduktionstätigkeiten eher selten als sadistische Tyrannengötter, die Menschen so lange an Marionettenfäden herumführen, bis sie nur noch deformierte Fleischklumpen sind. Treten können wir, egal in welchen Schichten der Gesellschaft wir uns bewegen, höchstens mal nach unten, aber im Allgemeinen müssen wir nach oben buckeln. Das Gefühl, in Sachen Sex und Gewalt an etwas Außergewöhnlichem teilhaben zu dürfen, ist uns nur kurz vergönnt, wenn wir Die Passion Christi oder Beverly Hills Copulator ansehen. Heiliges und Profanes gehen hier nur insoweit ineinander über, als dass die mystischen Erlebnisse vor dem Bildschirm uns die Zumutungen des Alltags leichter ertragen lassen, also Opium fürs Volk sind.

Zurück zu meinen einleitenden Bemerkungen. Gehören Splatterfilme und Torture Porn einem einzigen Genre an? Ich plädiere dafür, Torture Porn als eigenständiges Genre anzusehen, das eigene Akzente setzt. Während die Gewaltdarstellung im Splatterfilm sozialkritischer Kommentar oder überdrehter Spaß war, ist sie im Torture-Film im hohen Maße religiös aufgeladen, ebenso wie die Sexualität in der Pornografie. Sowohl Torture-Film als auch herkömmlicher Porno befriedigen kathartische Bedürfnisse, für die im kapitalistischen Alltag kein Raum ist, die aber von den Bedingungen, die auch den Alltag formen, geprägt sind und ihn in ihrer Wirkung letztlich affirmieren.

Dienstag, 3. März 2009

Nachtrag zu einer Kontroverse: Erinnert sich noch jemand?

Wohl eher nicht. Vor etwa einem Jahr fand die Kontroverse um das religionskritische Kinderbuch Wo bitte geht's zu Gott? fragte das kleine Ferkel von Michael Schmidt-Salomon (Text) und Helge Nyncke (Illustrationen) statt. Am 6. März 2008 lehnte die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien den Indizierungsantrag des Bundesfamilienministeriums ab und ließ die Debatte damit in der Vergessenheit versinken.* Im Rahmen der medialen Auseinandersetzung, die sich um den Indizierungsantrag entspannte, erhielt das Buch ein vielfaches der Aufmerksamkeit, die es aufgrund seiner ästhetischen Qualität eigentlich verdient hätte.

Die kritische Diskussion um die Qualität des Schmidt-Salomonschen Machwerks geriet durch die Kontroverse natürlich ins Hintertreffen, verschwand aber dankenswerterweise nicht ganz. Die ideologisch schlichten und intellektuell dünnen Grundannahmen, auf denen das Buch steht, wurden verschiedentlich durchaus bemerkt. Da ich die Debatte ob des latenten Widerwillens, den ich der vulgären Religionskritik, wie sie derzeit en vogue ist, entgegenbringe, nicht mit ungebrochener Aufmerksamkeit verfolgt habe, kann ich leider nicht sagen, ob auch der erste Kritikpunkt, den ich im Zusammenhang mit dem Buch habe, angesprochen wurde. Dieser Kritikpunkt entspricht mehr oder weniger dem, den ich im Zusammenhang mit Richard Morgans Polemik gegen Tolkien angebracht habe: Literatur für Kinder scheint in weiten Kreisen für etwas irgendwie und auf welche Weise auch immer minderbemitteltes gehalten zu werden. Bei Morgan äußert sich das in der Form, dass er Kinderbücher pauschal unterstellt, auf eine simplifizierende, keine Grautöne zulassende Darstellung von Gut und Böse angewiesen zu sein.

Schlimmer noch, weil dümmer, verhält sich in dieser Sache Schmidt-Salomon. Es gibt zwei Todsünden, die man im Spannungsfeld zwischen Kinder- und Erwachsenenliteratur begehen kann: Erstens, man beschließt, ein Buch für Erwachsene als Kinderbuch zu vermarkten (wie es zahlreichen Klassikern von Swift und Defoe bis hin zu Poe und Melville geschehen ist) und perpetuiert so die landläufige Meinung, dass für Schund gehaltene Erwachsenenbücher für Kinder gerade noch gut genug seien; und zweitens, man schreibt und veröffentlicht ein Buch, das formal als Kinderbuch gestaltet ist, sich in Wahrheit aber, über die Köpfe seiner jugendlichen LeserInnen hinweg, mit einem dümmlichen Augenzwinkern an Erwachsene richtet.** Letzterer Todsünde hat Schmidt-Salomon sich schuldig gemacht. Denn Wo bitte geht's zu Gott? fragte das kleine Ferkel ist nur vordergründig eine Geschichte über Schweinchen und Igel, die etwas interessantes erleben – eigentlich aber eine recht plump gehaltene Allegorie mit hölzerner Polemik, die wohl nur ebenso gehirnamputierten wie erwachsenen Brights Begeisterungsstürme entlocken kann.

Über die einzelnen allegorischen Darstellungen (sich prügelnde Geistliche als Sinnbild für Religionskriege etc.) will ich mich nicht weiter auslassen. Bemerkt sei nur, dass das allegorische Element auch in den Illustrationen vorhanden ist, wenn etwa der Zugang zu den Gotteshäusern der drei großen monotheistischen Religionsgemeinschaften als verwirrender Irrgarten gezeigt wird.*** Schwer zu glauben ist jedenfalls, dass den Autoren des Buches nicht klar gewesen sein soll, dass die Form der Allegorie Kindern, die Geschichten um der Geschichte willen lieben, in der Regel nicht zugänglich ist. Wo bitte geht's zu Gott? fragte das kleine Ferkel stellt schließlich Fragen, die Kinder nicht stellen, und befriedigt Bedürfnisse, die Kinder nicht haben. Eher ist doch anzunehmen, dass Wo bitte geht's zu Gott? fragte das kleine Ferkel den wohlfeilen Versuch darstellt, in auch schlichtesten Gemütern zugänglicher Form primitiv-antireligiöse Klischees zu verbreiten. Die Verkaufszahlen des Buches geben diesem Versuch recht. Aber auch nur diese.

Nun zum zweiten Kritikpunkt: Sehen wir uns die Darstellung der monotheistischen Religionen ein wenig näher an, so rechtfertigen diese allerdings den Verdacht auf Antisemitismus, dem Schmidt-Salomon und Nyncke sich ausgesetzt sahen. So bleibt es in dem Buch vor allem dem Rabbi vorbehalten, Gott als sadistischen Wüterich zu verkündigen, damit dem antijudaistischen Stereotyp vom alttestamentarischen Rachegott Vorschub leistend. Zudem zeigt Schmidt-Salomon sich als auf blamable Weise uninformiert über die jüdische Religion, wenn etwa eine Synagoge als »Tempel« bezeichnet oder behauptet wird, diese dürfe nur von jüdischen Menschen betreten werden. Auch dies letztere ist ein alter Topos antisemitischer Agitation, der die Abgrenzung der Juden gegen die Mehrheitsgesellschaft mit einem angeblichen jüdischen Überlegenheitsgefühl erklären und damit die Ghettoisierung und Stigmatisierung, der sich das jüdische Volk jahrhundertelang ausgesetzt sah und noch sieht, verschleiern will. Ob Schmidt-Salomon solche Ressentiments absichtlich oder unbewusst bedient, muss ich hier offenlassen. Schlimm ist allein schon ihr Vorhandensein. Ähnlich ignorant wie das Judentum wird der Islam abgehandelt. Schmidt-Salomon scheint in Bezug auf diesen ähnlich unwissend zu sein wie in Sachen jüdische Religion: Seinen Mufti lässt er behaupten, man müsse Muslim werden, um Gott kennenzulernen, was nicht gerade für Schmidt-Salomons Korankenntnis spricht.****

Die derzeit von Autoren wie Richard Dawkins und Christopher Hitchens popularisierte, von Gruppen wie den Brights und der Giordano-Bruno-Stiftung vertretene weltanschaulich motivierte Religionskritik wurde durch Schmidt-Salomons und Nynckes Buch insofern auf eine neue Ebene erhoben, als dass sie antisemitische Stereotypen in einer Form aufnimmt, die an Deutlichkeit kaum zu wünschen übrig lässt. Vor diesem Hintergrund erscheint der Indizierungsantrag des Bundesfamilienministeriums plötzlich gar nicht mehr so absurd, wie beklagenswert lächerlich die Argumentation des Antrags im einzelnen auch sein mag. Um zu dieser Annahme zu kommen, ist es gar nicht mal nötig, das Buch in eine Reihe mit Stürmer-Karikaturen zu stellen, wie einige VertreterInnen von Religionsgemeinschaften und Medien es vorschnell (und weitgehend ungerechtfertigt) taten.

Ebenso bleibt aber zu konstatieren, dass der Antrag dankenswerterweise abgelehnt wurde. Denn neben allen generellen Vorbehalten gegen Zensur (die die Indizierung immer auch ist), wäre das Buch, einmal auf dem Index gelandet, nur unnötig aufgewertet worden. Noch immer ist der antireligiös-fundamentalistische Naturalismus, wie Schmidt-Salomon, seine Stiftung und die gegenwärtige religionskritische Bewegung ihn vertreten, eine – wenn auch lautstarke – Minderheitenposition, die bislang an der Indifferenz der Mehrheit gegenüber religiösen Fragen nichts ändern konnte (daher der Titel dieses Eintrags). Es wird aber auch deutlich, dass der jeglicher Dialektik abholde Aufklärungsfundamentalismus, wie gerade die grenzdebil-verblödeten, oft ihrerseits gegen jegliche Kritik immunisierten ReligionskritikerInnen ihn vertreten, kein Verbündeter in der Auseinandersetzung mit religiösem Fundamentalismus und Obskurantismus ist, sondern im Gegenteil diesem an Intoleranz und Vorurteilsbeladenheit nur wenig nachsteht. Eine seriöse, nicht an intellektueller Verflachung leidende Religionskritik, die auch außerhalb akademischer Kreise diskutiert wird, ist dagegen verzweifelt vonnöten.

* Eine Zusammenfassung bietet der Wiki-Artikel.
** Womit natürlich nicht gesagt ist, dass ein Buch auch Kindern und Erwachsenen gleichermaßen – oder auf je unterschiedliche Weise – zugänglich sein kann. Bestenfalls ist das so.

*** Die Illustrationen zu dem Buch können hier betrachtet werden.
**** Zu den strukturellen Ähnlichkeiten von »Israelkritik« und »Islamkritik« vergleiche diesen lesenswerten Artikel auf haGalil.com. Auch in der Darstellung des (katholischen) Christentums durch Schmidt-Salomon sind bemerkenswerte Kontinuitäten zu antisemitischen Mythen erkennbar: Bekanntlich wurde dem Judentum traditionell die Schlachtung christlicher Kinder vorgeworfen, um aus ihnen Hostien herzustellen. Ein ähnlicher Kannibalismusvorwurf wird im Buch gegen das Christentum erhoben.

(Nicht ganz) kurze Ergänzung zum Fantasy-Special

Aaaaha. Nachdem ich mittlerweile die Bücher-Ausgabe mit dem Fantasy-Special selbst in den Händen hielt, kann ich nun triumphierend mitteilen, wie Mary Gentles Legende von Ash in die Bestenliste* des Bücher-Magazins geraten ist: Dietmar Dath erwähnt den Zyklus in seinem – ebenfalls in der betreffenden Ausgabe enthaltenen – Artikel »Haben Sie was gegen Fantasy? Wie man Fantasy verteidigt – und wieso das unnötig ist«. Daths kurzes Name-dropping genügte anscheinend, um Ash und ihren SöldnerInnenhaufen einen Platz im Olymp zu sichern, zumindest im begrenzten Kosmos der Bücher-Redaktion. Nun ja. Während ich Ash jederzeit einen Platz unter den Halbgöttern und zwielichtigen Helden wünschen und zugestehen würde, ist es jedoch nicht angebracht, liebe Redaktion, sie ganz oben zu positionieren. Zu wuchernd und unausgegoren, zu sehr geprägt von halbgaren Dialogen und ungenügenden Charakterzeichnungen ist der schier unübersehbare, ebenso anziehende wie abstoßende Ideen-sprawl, den Mary Gentle da vor einigen Jahren abgeliefert hat. Ebenso ein Griff ins Klo, liebe Redaktion, ist übrigens die wiederholt angebrachte Bemerkung, Robert E. Howards cimmerischer Trademark-Held Conan werde niemals von irgendeiner Art Zweifel geplagt. Das stimmt so nicht –
Die unverhoffte Melancholie legte sich wie ein Leichentuch über die Seele des Cimmeriers und lähmte ihn mit dem erdrückenden Gefühl, alles menschliche Streben sei vergeblich und das Leben ein sinnloses Unterfangen. Sein Königreich, seien Freuden, seine Ängste, sein Streben, alle irdischen Belange kamen ihm auf einmal vor wie Staub und ein zerbrochenes Spielzeug. Sein ganzes Leben schrumpfte bis auf einen Punkt und die Lebenslinien darin verdorrten vor seinem inneren Auge. Ein taubes Gefühl war alles, was ihm blieb; er legte den Kopf in die großen Hände und stieß ein lautes Stöhnen aus.
Robert E. Howard, »Im Zeichen des Phönix«, Langfassung

– und zeugt von mangelnder Recherche. Ein ausdrückliches Lob sei an dieser Stelle jedoch Dietmar Daths Artikel** zuteil. Der enthält eine Verortung phantastischer Erzähltechniken im Gesamtzusammenhang der Literatur und präzise Definitionen der verschiedenen Genres der Phantastik. Gerade solche Definitionen, die über das einfältige »Fantasy hat Elfen und Drachen, Science Fiction hat Raumschiffe und Laserwaffen«, welches LeserInnen zur Abspeisung so häufig vorgesetzt wird, hinausgehen und klärend-kritisch wirken können, braucht es dringend in den Mainstream-Medien.

* Missratene Wichtigstenliste trifft es eigentlich besser.
** Im Bücher-Editorial etwas vollmundig als
»Groß-Essay« angekündigt, hehe.

Mittwoch, 25. Februar 2009

Fantasy-Special

Die Ausgabe 2/2009 von Bücher enthält ein Fantasy-Special. Ein Fantasy-»Überblick: Wen muss ich kennen, was soll ich lesen?!« (S. 26), der nicht aus der Fantasyszene stammt, sondern in einem Mainstream-Literaturmagazin publiziert wird, ist ein Novum. Das Ding erweist sich allerdings schnell als Enttäuschung. Es beginnt nämlich überflüssigerweise mit einer Kategorie Bestseller, in der Rowling, Hohlbein, King und Pratchett aufgelistet sind. Eine Erklärung, warum man Bestseller kennen und/oder lesen muss, bleibt Bücher leider schuldig. Es geht weiter mit einer Abteilung »Für junge Leser«, in der neben den zu erwartenden Erwähnungen Ende, Funke, Stroud und den beiden Meyers (Kai und Stephenie) lediglich Diana Wynne Jones zu überraschen weiß. In der Abteilung »Die Gegenwart« sind George R.R. Martin mit ASoIaF und China Miéville mit Perdido Street Station und Iron Council gut aufgehoben, vielleicht auch noch Lukianenko mit seinen Wächter-Romanen. Aber Mary Gentle mit ihrem Ash-Zyklus? Der stellt zwar einen hochinteressanten Versuch dar, der aber letztlich grandios gescheitert ist. Einflussreicher und daher im Zusammenhang eines solchen Rankings nennenswerter wären sicherlich Steven Erikson, R. Scott Bakker oder Scott Lynch gewesen, bedeutender Michael Swanwick oder Neil Gaiman. Auch zur abschließenden Klassiker-Abteilung von Bücher ist nicht viel zu sagen: Tolkien, Lewis und Howard; auf mehr ist man nicht gekommen. Erwähnungen von Lord Dunsany, James Branch Cabell, Hope Mirrlees, G.K. Chesterton und Mervyn Peake, oder auch von Clark Ashton Smith, Karl Edward Wagner, Fritz Leiber, Michael Moorcock und Jack Vance – das wäre wohl zuviel verlangt gewesen.

Donnerstag, 19. Februar 2009

Fantasy noir … oder eher Blackout?

Richard Morgan hat einen rant gegen Tolkien vom Stapel gelassen, der tatsächlich eine ungenügend verkleidete – und reichlich plumpe – Werbeaktion für Morgans The Steel Remains ist. Krachten in den Anti-Tolkien-Polemiken Michael Moorcocks (»Epic Pooh«) und China Miévilles Weltanschauungen aufeinander, haben wir mit Morgans Essay »The Real Fantastic Stuff« das Marktgeschrei eines Händlers vorliegen. Der kurze Text läuft in seiner Gesamtheit darauf hinaus, dass Morgan mit zweifelhaften Argumenten seinen Roman anpreist.

Morgans These: So ziemlich das einzig interessante, menschliche und reale im LotR ist das Gespräch zwischen den Ork-Offizieren Gorbag und Schagrat auf dem Weg zum Turm von Cirith Ungol (Morgan gibt als Ort des Gesprächs fälschlicherweise den Turm selbst an, wie ich in meiner hier übernommenen Rolle als Tolkien-geek kritisch anmerken möchte). Dem ist insoweit zuzustimmen, als dass diese Szene tatsächlich eine der intensivsten im gesamten LotR ist. Jedoch, wenn Morgan vom Inhalt des Ork-Dialogs ausgehend schlussfolgert, die Szene sei von JRRTs Weltkriegserfahrungen inspiriert – spätestens dann hapert es an Nachvollziehbarkeit. Denn eigentlich ist unschwer zu erkennen, dass Tolkien die beiden Ork-Hauptmänner als reine Söldner- und Bandenführernaturen gezeichnet hat. Gorbag und Schagrat sind alles andere als »disenchanted«, wie Morgan interpretiert. Sie treten nach unten und buckeln nach oben, sind sadistisch und auf Beute aus. Sie verhalten sich in etwa so, wie kleinliche Bösewichter in Abenteuerromanen des 19. Jahrhunderts aufzutreten pflegten. Dass Morgan derartig gezeichnete Charaktere für realistisch hält, sagt recht viel über seine Realitätswahrnehmung aus, aber nichts über den LotR selbst.

Interessant ist nun Morgans weitere Einschätzung der Gesprächsthemen Gorbags und Schagrats. Diesen sei zu entnehmen, dass die beiden Offiziere einen »rough good humour« und »some significant loyalty to the soldiers they command« besäßen – während sie sich tatsächlich darüber lustig machen, dass die Riesenspinne Kankra einen ihrer unachtsamen Untergebenen verspeisen will –, sie wollen laut Morgan, dass der Krieg eher heute als morgen vorbei ist – was schlecht damit zusammenpasst, dass sie sich Sorgen machen, nach Ende der Kampfhandlungen nicht mehr nach Lust und Laune plündern zu können –, und so geht es weiter. Morgan scheint an dem Landsknechtgehabe Gefallen finden zu können, indem er es missversteht und verklärt. Gorbag sei ein »hard-bitten survivor«, der die »messy human realities of a Great War [...] from ground level« sieht. Er habe eine Attitüde, die beinahe als noir zu bezeichnen sei. Autsch. Und damit soll es genug sein.

Man muss Tolkiens epochemachendes Werk nicht mögen, um Morgans Polemik als die Luftblase zu erkennen, die sie ist. Vage ist noch ein wenig die Rede von »archetypical idea(s)«, die Tolkien gehabt habe – Morgan entgehen die ethischen Fragen, die der LotR aufwirft, indem er sie jungianisch verpsychologisiert –, um schließlich (damit zum Eingemachten kommend) seinen eigenen Roman mit dem Hinweis zu loben, dass es kein Kinderbuch wie der LotR, sondern für Erwachsene geschrieben sei. Was eigentlich nur zeigt, dass er zweierlei nicht verstanden hat: Erstens ist der LotR kein Kinderbuch – und zweitens kritisiert man einen Roman nicht, indem man ihn als Kinderbuch bezeichnet.

Montag, 16. Februar 2009

Warten auf George

Hier steht eine sympathische Verteidigungsrede für George R.R. Martins hartnäckig ausbleibenden vierten Band von A Song of Ice and Fire. Eher etwas für LeserInnen, die die Hoffnung auf A Dance with Dragons noch nicht aufgegeben haben. Alle anderen werden bei der Lektüre wohl eher wieder das große Wutschnauben gekriegt haben ...

Was ich, nebenbei bemerkt, nicht ganz verstehe. Das übermäßige Wertschätzen abgeschlossener bei gleichzeitigem Verfluchen unfertiger oder mit-dem-Ende-auf-sich-warten-lassender Zyklen ist mir eher fremd. Ich lese zum Beispiel ein Fragment von einem Autor wie Robert E. Howard tausendfach lieber als ein Conan-Pastiche von Lin Carter oder L. Sprague de Camp. Same goes for a bunch of other authors.

Foto-Disclaimer

Das Foto im Blog-Header wurde freundlicherweise von Sandra Rugina zur Verfügung gestellt. Es zeigt den Bâlea-See in den rumänischen Karpaten. Alle Rechte liegen bei der Autorin.