Dienstag, 12. Mai 2009

Fuck … even Tolkien’s gone grim & gritty now!

Vor sieben Tagen und Nächten erschien The Legend of Sigurd and Gudrún von J.R.R. Tolkien, zur Bestätigung der Tendenz, dass dessen posthumer literarischer Output höher ist als zu seinen Lebzeiten. Das Buch enthält zwei Gedichte (Völsungakviða en nýja »Das neue Völsungenlied« und Guðrúnarkviða en nýja »Das neue Gudrúnslied«) Tolkiens, basierend auf den eddischen Sagen von Sigurd dem Drachentöter, verfasst im altisländischen alliterierenden Versmaß. Die Geschichte von Sigurd, Brynhild und Gudrún lässt sich größtenteils auch anderenorts nachlesen (nicht zuletzt im Nibelungenlied), doch Tolkiens Absicht war es, das unvollständige Quellenmaterial, das schon mit Ruinen verglichen wurde, zu ordnen, zu ergänzen und in einer Fassung aus einer Feder zu vereinen.
Der Aberwitz dieses Unternehmens wird noch gesteigert dadurch, dass es funktioniert: Dass wir heute wieder eine zusammenhängende Geschichte lesen können, die die letzten Jahrhunderte in Trümmern lag. Aber bei Tolkien muss mit solchen Aberwitzigkeiten gerechnet werden – war er es doch, der die heute quasi-standardmäßig verwendeten Pluralformen elves und dwarves (re-)etabliert hat.

Und noch eine Tendenz scheint sich auf Sigurd & Gudrún auszuwirken (natürlich nur scheinbar; Christopher Tolkien vermutet die Entstehung der Gedichte in den frühen 1930er Jahren): Die grim & gritty-Fantasy:
Als Atli der Hunnenkönig die Brüder seiner Frau Gudrún tötet, obwohl diese ihn um ihrer gemeinsamen Söhne Erp und Eitill Willen um Gnade für ihre Brüder gebeten hatte, folgt die Rache auf dem Fuße:

Gudrún:
‘Hail, O Hun-king, | hear me speaking:
My brethren are slain | that I begged of thee.
Erp and Eitill | dost thou ask to look on?
Ask no longer – | their end hath come!

Their hearts thou tastest | with honey mingled,
their blood was blent | in the bowls I gave;
those bowls their skulls | bound with silver,
their bones thy hounds | have burst with teeth.’


Sowieso scheint Ódin der einzige zu sein, der die Geschichte überlebt. Alle anderen bringen sich gegenseitig oder selbst um, aus Rache, Liebe oder Gier. Eine schöne Darstellung des edlen nordischen Geistes.

Sehr viel mehr brauche ich nicht berichten über den neuen Tolkien, denn Tom Shippey (hier im Times Literary Supplement) und John Garth (dort in The Times) haben bereits so manches kluge Wort über den ›neuen Tolkien‹ verloren.

Diesen bleibt nicht mehr viel hinzuzufügen – zwei Hinweise zum Inhalt seien allerdings erlaubt:
  1. Die Gedichte sind nicht durchgehend unverständlich – im Gegenteil, man mag hier oder dort über eine seltsame Wendung stolpern oder eine Zeile nicht verstehen – aber das ist die Ausnahme. Der Großteil des Textes liest sich angenehm flüssig.
    Inhaltlich erscheinen die Gedichte beim ersten Lesen teilweise undurchschaubar. Dem schafft Christopher Tolkien mit seinen exzellenten Kommentaren Abhilfe, so dass man sich zügig in die Gedankenwelt der Verfasser (sowohl der alten wie auch des neuen) einlesen kann.
  2. Die Gedichte sind nicht lang. Das Buch bringt es zwar auf 377 Seiten, von denen die Gedichte aber gerade mal ungefähr die Hälfte ausmachen – gesetzt mit so viel Weißraum, dass ausreichend Platz bleibt für persönliche Notizen. Auch inklusive der erhellenden Kommentare, Einleitungen und Anhänge kostete mich die Lektüre nicht länger als zwei Tage.
Ansonsten ist das Buch ansprechend und anspruchsvoll gestaltet. Die Illustrationen von Bill Sanderson, basierend auf den geschnitzten Türpfosten einer Kirche aus dem 12. Jahrhundert, fügen sich schön in das Buch ein, und ähneln – als Nachschöpfung alter Vorlagen – Tolkiens Gedichten. Warum allerdings die Darstellung von Regins Tod – im Gegensatz zu den anderen Illustrationen – aus der Erzählreihenfolge tanzt, bleibt wohl ein Geheimnis der Herstellungsabteilung von HarperCollins. Dafür ist das Frontispiz – die Reproduktion einer Manuskriptseite aus dem Guðrúnarkviða en nýja – eine nette Aufwertung und eine Erinnerung daran, dass Tolkiens Handschrift nicht immer unleserlich war.
Mit milder Verwunderung betrachte ich, dass die Überschriften der Abschnitte des Buches auf jeweils zwei aufeinanderfolgenden Seiten exakt wiederholt werden – dafür, meine ich, hätte mit etwas Kreativität eine elegantere Lösung gefunden werden. Ebenso verwundert bin ich darüber, dass in den Kommentaren, Vor- und Nachwörtern grazile Vignetten zur Einteilung in Abschnitte verwendet werden, in den Gedichten dann aber billig wirkende Asteriske ausreichen müssen. Vielleicht hat HarperCollins die Zeiten des Bleisatz nicht ganz überwunden und rechnet noch mit begrenzten Kontingenten einzelner Lettern.
Auch sonst fallen einige Satzfehler ins Auge, besonders fehlen hier und dort Anführungszeichen. Schade. Denn diese Makel haben nichts verloren in einem so gelungenen Gesamtkunstwerk aus genialer epischer Poesie und gebündeltem, zugänglich präsentierten Fachwissen.

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Foto-Disclaimer

Das Foto im Blog-Header wurde freundlicherweise von Sandra Rugina zur Verfügung gestellt. Es zeigt den Bâlea-See in den rumänischen Karpaten. Alle Rechte liegen bei der Autorin.