Montag, 31. Oktober 2011

Das Jahrhundert der Hexen

Wenn ich mich recht erinnere, war Das Jahrhundert der Hexen von Marina und Sergej Dyachenko die erste russische Fantasy, die nach dem Erfolg von Wächter der Nacht in deutscher Übersetzung erschien. Zwischen den Wächter-Romanen und Metro 2033 gingen die Dyachenkos allerdings ziemlich unter.

Das Jahrhundert der Hexen spielt in einem namenlos bleibenden Herzogtum, das sich technologisch etwa auf dem Stand der 1990er Jahre befindet. Die Menschen leben dort auf ziemlich angespannte Weise mit verschiedenen übernatürlichen Wesen zusammen. Diese sind zunächst die titelgebenden Hexen, deren Handlungen und Motivationen für die Menschen völlig undurchschaubar und erschreckend sind. Während manche Hexen sich unauffällig und angepasst verhalten, treten andere den Menschen mit Hass und scheinbar wahllos ausbrechender Gewalttätigkeit gegenüber. Gewöhnlich einzelgängerisch und chaotisch, warten die Hexen auf das Erscheinen der Mutterhexe, eine messianische Figur, die ihre ›Kinder‹ zu einer Gemeinschaft zusammenschweißen soll. Zur Überwachung der Hexen hat sich eine übermächtige Inquisitionsbehörde gebildet, die als Staat im Staat weitgehend unabhängig von äußeren politischen Vorgaben agiert, während in ihrem Inneren zahlreiche Intrigen und Fraktionskämpfe ausgetragen werden. Angehende Hexen können sich bei der Inquisition registrieren lassen. Sie verzichten damit auf ihre Initiation (damit ist gewissermaßen die Aktivierung ihrer Hexenkräfte gemeint) und sind vor Verfolgungen sicher. Andererseits werden sie ständig überwacht und kommen auch nicht in den vollen Genuss staatsbürgerlicher Rechte.

Neben den Hexen gibt es die Njauken – Frauen, die von den Toten zurückgekehrt sind und Männer, die sie zu Lebzeiten geliebt haben, ebenfalls in den Tod locken wollen. Die Erzfeinde der Njauken sind die Tschugeister, Dämonen, welche eine Art Polizeitruppe bilden und die Njauken erbarmungslos verfolgen. Anders als mit den Hexen scheint es kein noch so gewaltförmiges und prekäres Auskommen zwischen den Behörden des Herzogtums und den Njauken zu geben: Stoßen die Tschugeister bei einer Razzia oder einer Straßensperre auf eine Njauka, wird sie sofort mittels eines rituellen Tanzes, den allein die Tschugeister beherrschen, vernichtet.

Im Roman finden sich zwei Handlungsebenen. Die Haupthandlung, in der Gegenwart angesiedelt, erzählt von den Bemühungen des Großinquisitors Klawdi Starsh, den wachsenden Gewalttätigkeiten einiger Hexen, die die Ankunft der Mutterhexe vorbereiten wollen, entgegenzutreten. Ihm zur Seite steht die gegen ihren Willen in die Ereignisse verwickelte Ywha, eine junge, nicht-initiierte Hexe, die gleichwohl beharrlich die Registrierung durch die Inquisition verweigert. Klawdi deckt Ywha, weil sie mit dem Sohn seines Jugendfreundes Juljok verlobt ist, zieht sie aber zugleich in seine Ermittlungen gegen die Hexenverschwörung hinein, in der er massiv Folter einsetzt.

Dieser Handlungsstrang ist etwas überfrachtet. Neben der actionreichen Auseinandersetzung zwischen Inquisition und Hexen will er auch noch die Entwicklungsgeschichte Ywhas sein, die mit ihrem Hexenstatus ebenso hadert wie mit dem Inquisitionsapparat. Sie ist beständig hin- und hergerissen, vor sich selbst ebenso auf der Flucht wie vor den Zumutungen der Behörden. Ebenfalls erzählt werden will die Geschichte von Klawdi, dem kaltschnäuzigen alten Großstadtbullen, der im Umgang mit Ywha sich selbst neu kennen lernt. Das alles ist ziemlich viel, weshalb ich beim Lesen gelegentlich den Eindruck hatte, dass die drei Handlungselemente sich gegenseitig im Weg stehen. Sie verlieren zudem stark an einem erzählerischen Manko, welches viele Geschichten heimsucht: Man ahnt zu einem frühen Zeitpunkt der Lektüre, worauf alles hinausläuft und wie das Finale ungefähr aussehen wird.

Eingeflochten zwischen die Haupthandlung findet sich die episodisch erzählte Jugendgeschichte Klawdis, der eine leidenschaftlich-morbide Liebesbeziehung zu einer Njauka führte, bevor er zum zynischen Inquisitor wurde, der nichts und niemanden an sich heranlässt. Die Charaktere treten in diesem Handlungsstrang weitaus plastischer hervor, alles wirkt klarer und fokussierter. Fast empfindet man die Haupthandlung als störende Unterbrechung dieser Geschichte, die schaurig darstellt, wie Klawdi am Verlust seiner Geliebten und seinen Gefühlen scheitert.

Am Ende hat man das Gefühl, man wäre bereits ausreichend bedient worden, wenn Das Jahrhundert der Hexen sich auf eine der beiden Handlungsebenen beschränkt hätte. Stilistisch ist der Roman übrigens sehr eigenständig, weit über dem Gros der Fantasy angesiedelt. Und überfrachtet mag er sein, das Lesen lohnt sich irgendwie trotzdem.

Das Jahrhundert der Hexen von Marina & Sergej Dyachenko (441 Seiten) erschien 2008 bei Piper. Die Übersetzung stammt von Christiane Pöhlmann.

2 Kommentare:

Aeria hat gesagt…

Eine sehr schöne Rezi.
Das ist der einzige bislang auf Deutsch erschienene Roman der Dyachenkos, was ich schade finde. Ich kenne zwar nur noch einen weiteren Roman der beiden und habe damit gerade mal einen Bruchteil der bislang erschienenen Bücher gelesen, aber allein schon dieser Bruchteil zeigt, was die Autoren drauf haben. Die Ideen sind faszinierend!
Das einzige, das mir so gar nicht gefallen hat, war das Gestammel. Die Figuren können keine Satz ohne sprechen. Ich weiß nicht, ob das in der deutschen Übersetzung auch so rüber kommt, aber im Original fand ich das sehr anstrengend.
Ansonsten: Ja, "Das Jahrhundert der Hexen" ist ein lesenswerter Roman, der ohne die zur Zeit gängigen Klischees auskommt.

***
Aeria

Murilegus rex hat gesagt…

Hallo Aeria, ich kann mich an keine ausgeprägten sprachlichen Eigentümlichkeiten in den Dialogen erinnern. Bin aber bei russischen Büchern auch vollständig auf Übersetzungen angewiesen und kann mir daher gar nicht vorstellen, wie das im Original aussehen könnte.

Foto-Disclaimer

Das Foto im Blog-Header wurde freundlicherweise von Sandra Rugina zur Verfügung gestellt. Es zeigt den Bâlea-See in den rumänischen Karpaten. Alle Rechte liegen bei der Autorin.