Sonntag, 29. April 2012

Torsten Fink: Nomade

Torsten Finks Nomade ist ein Buch, das ich nach drei Leseversuchen endgültig beiseite gelegt habe. Bei keinem dieser Versuche bin ich über S. 70 hinausgekommen, weil der Roman – um es platt auszudrücken – mich an keiner Stelle in seinen Bann gezogen hat. Das sage ich absichtlich so, weil ich mir gut vorstellen kann, dass Nomade bei vielen Leser_innen Gefallen finden könnte, auch bei solchen, die nicht ganz anspruchslos in der Wahl ihrer Fantasy-Lektüre sind. Die Sache stellt sich also folgendermaßen dar: Ich kann nicht beurteilen, ob mich an Nomade irgendetwas erheblich stört bzw. ob ich es bereut hätte, den Roman bis zum Ende zu lesen. Sagen kann ich nur, was mich vom Weiterlesen abgehalten hat und weitere Eindrücke beschreiben, die die eine oder den anderen vielleicht bewegen wird, in das Buch hineinzuschauen.

Nomade ist der Auftakt zur Trilogie Der Sohn des Sehers, deren Folgebände Lichtträger und Renegat bereits erschienen sind (allesamt 2010). Sie spielen in einer Sekundärwelt, die an das antike Zweistromland angelehnt ist, mit dem fiktiven Reich von Neu-Akkesch im Mittelpunkt. Wer bereits etwas von Fink gelesen hat, kennt diese Welt vielleicht schon aus seiner 2009er Trilogie Die Tochter des Magiers. Für mich ist es jedoch der erste Versuch mit einem Roman des Mainzer Autors.

Die Handlung nimmt beim Nomadenvolk der Hakul seinen Anfang, das nördlich von Neu-Akkesch lebt. Protagonist ist der junge Awin, der beim Seher seines Clans in Ausbildung ist und ansonsten als Außenseiter gilt. Er ist unsicher und steht unter dem Zwang, sich beweisen zu müssen, doch natürlich zeichnet sich bei einer derartig angelegten Story gleich zu Anfang ab, dass in Awin mehr steckt, als es für seine Mitcharaktere den Anschein hat. Der Plot wird angeschoben von einem brutalen Überfall auf das Heiligtum der Hakul, bei dem die Familie eines Hirten ermordet und der bedeutendste Kultgegenstand der Clans entwendet wird. Grundlegende Erzählelemente also: Ein junger Mann, der seinen Platz im Leben noch nicht gefunden hat, ein wertvolles Artefakt, das gesucht werden muss – so weit, so konventionell.

Mehr kann ich zur Story gar nicht sagen, denn über diese beiden Ausgangspunkte bin ich leider nicht hinaus gekommen. Man verzeihe mir also meine Ignoranz, falls ich die Gelegenheit verpasst haben sollte, eine originelle, subversive Brechung dieses doch recht verbrauchten Handlungsaufbaus zu erleben. Aber wie es auch immer weiter gehen mag, auf den ersten 70 von 458 Seiten (ohne Anhang) war nichts von einer solchen Möglichkeit zu entdecken. Mein Hauptproblem mit dem Buch ist, dass beim Lesen weder Spannung aufkam (was auch bei einem konventionellen Plot möglich ist), noch das Setting irgendwie mein Interesse wecken konnte (was für einen konventionellen Plot vielleicht entschädigt hätte). In der Tat finde ich, dass es dem Autor nicht gelungen ist, die Lebenswelt und die Gesellschaft der Hakul überzeugend zu schildern. Als Beispiel ein Detail, das mich besonders irritiert hat: Im Prolog wird berichtet, wie ein Vater mit seinen fünf (!) Söhnen Kleinvieh hütet – für eine nomadische Gesellschaft eine absolut ineffektive Verteilung von Arbeit, die an keiner Stelle erklärt wird. Dennoch ist die Mühe erkennbar, die Fink sich bei der Ausgestaltung seiner Welt gegeben hat. In der Tat wäre die Weltgestaltung ein Punkt, von dem ich glaube, dass er begeisterte Leser_innen finden könnte, und bin zu dem Eingeständnis bereit, dass das Setting von Nomade bei mir einfach deshalb nicht funktioniert, weil ich mich eben bei solchen Details wie dem oben erwähnten aufhalte. Von Magie im engeren Sinne und von typischen Fantasy-Kreaturen (Stichwort Völkerromane) ist auf den ersten Seiten von Nomade übrigens nichts zu bemerken. Stattdessen geben Prolog und Anhang des Romans zu verstehen, dass Mythen und Göttergeschichten eine wichtige Rolle für die Handlung spielen werden.

Was kann ich also abschließend sagen, von der bereits getroffenen Feststellung, dass das Buch nicht mein Fall ist, einmal abgesehen? Wer eine Trilogie von einem deutschsprachigen Autor lesen möchte, die anstelle von Ogern, Orks und Elfen auf ein ungewöhnliches Setting Wert legt, könnte es mit Nomade durchaus mal versuchen. Das gilt sicherlich auch für Leute, die die vorangegangene Trilogie Die Tochter des Magiers kennen und etwas damit anzufangen wussten. Ob der Roman (oder die Trilogie) auch größere Erwartungen zu erfüllen vermag, kann ich dagegen nicht mit Sicherheit sagen – und vorstellen kann ich es mir leider auch nicht.

Nomade von Torsten Fink (462 Seiten) ist 2010 bei Blanvalet erschienen.

Montag, 23. April 2012

Übersetzung von Acacia: The Sacred Band im März 2013


Neuigkeiten aus dem Herbstprogramm von Blanvalet: Der abschließende Band von David Anthony Durhams Acacia-Trilogie, The Sacred Band, soll am 18. März 2013 unter dem Titel Reiche Ernte in Deutschland erscheinen.

Freitag, 20. April 2012

Neuzugänge

  • Terry Brooks, The Sword of Shannara (fürs Regal)
  • Jonathan Carroll, The Land of Laughs
  • Angela Carter, Die infernalischen Traummaschinen des Doktor Hoffman
  • Günter Kunert, Gast aus England
  • Matthew Lewis, The Monk
  • Alexander McCall Smith, The No. 1 Ladies’ Detective Agency
  • Mary Renault, Der Stier aus dem Meer
  • Horace Walpole, The Castle of Otranto
  • John Wyndham, The Midwich Cuckoos

Montag, 16. April 2012

Rezensionswesen

Das hier, ein umfangreicher Artikel der Berliner Zeitung über Amazon-Kundenrezensionen, hätte ein recht interessanter und informativer Bericht über das Bewertungswesen bei Amazon werden können.* Leider wird im gesamten Text so dermaßen auf die Tränendrüse gedrückt, dass es kaum zu ertragen ist. Immerhin wird deutlich, dass das in der Amazon-Community vielfach zum Ausdruck kommende Mob-Bewusstsein von der Geschäftsführung sehr wahrscheinlich als verkaufsfördernd angesehen wird. Es fehlt allerdings der Hinweis darauf, in welchen Bereichen das Abfeiern von idolisierten Autoren und die Buhrufe gegen unliebsame Kritikerinnen besonders unappetitliche Züge annehmen: Eso-Heilsbringer, positivistische Pfaffenfresser, miefig-traditionalistische Klerikale, antisemitische Verschwörungstheoretiker und sämtliche Spielarten von Pseudowissenschaft können sich sicher sein, dass ihre obskuren Publikationen auf Amazon von einer treu ergebenen Fan-Base bejubelt werden. Wer eine negative Bewertung in einer dieser Weltanschauungsnischen abgeben will, sollte eine gewisse Dickfelligkeit mitbringen und sich auf Beschimpfungen gefasst machen. Interessant ist die Erkenntnis, die man dabei machen kann, aber allemal: Die aufgezählten Milieus, die sich untereinander spinnefeind sind, gleichen sich in ihren Ressentiments wie ein Ei dem anderen.

Recht deutlich wird der Artikel, wenn es darum geht, dass negative Bewertungen bei Amazon grundsätzlich unerwünscht sind, während in positiven Rezensionen praktisch alles drinstehen darf, was nur irgendwie verkaufsfördernd ist. In extremen Fällen gilt das auch für die Leugnung des Holocaust, wie sie in Bewertungen zu verschwörungstheoretischen Büchern von einem unter dem Nick Dipl.-Ing. D.I.S. auftretenden Amazon-User regelmäßig veröffentlicht wird. Der braune Kamerad heißt eigentlich Dennis Schulz und verbreitet auch auf YouTube** und MyVideo (hier unter dem Nick Resurrector21) rechtsradikale und verschwörungstheoretische Inhalte. Bemerkenswert ist, dass er von Amazon.de allem Anschein nach bislang völlig unbehelligt gelassen wurde, auch dann, wenn es um strafrechtlich relevante Aussagen ging. Allzu offensichtlichen Geschichtsrevisionismus in seinen Rezensionen entschärfte er nur deshalb, weil andere User_innen mit Strafanzeige drohten.

Das Verhalten von Amazon.de entbehrt nicht einer gewissen Konsequenz. Positive Bewertungen sind für den Konzern Gratiswerbung, das ist bei normaler Literatur nicht anders als bei Fascho-Hetzschriften. Die Kundenrezensionen sind direkt in den Verkaufskreislauf eingebunden und Teil des Tauschverhältnisses, das die Kund_innen mit dem Buchhandelsgiganten eingehen. Der Artikel lässt deshalb einen Göttinger Literaturprofessor fordern, Amazon müsse transparent werden: Weil die User_innen in das Unternehmen eingebunden seien, dürfe Amazon seine Geschäftspolitik nicht als Privatsache behandeln und müsse glaubhaft darlegen, wie gegen den Missbrauch der Rezensionsfunktion vorgegangen werden kann.

Ich finde es fast schon verständlich, wenn Amazon zu solchen Forderungen nur mit den Achseln zuckt. Der Konzern unterliegt wie jedes Unternehmen dem Verwertungszwang und kann in den Bedürfnissen von User_innen, die nicht unmittelbar mit dem Verwertungsprozess zusammenhängen, daher nichts anderes als eine Nebensache sehen. Durch ihre Einbindung sind die Kundenrezensionen nicht mehr in erster Linie Kritik,*** sondern Werbung, und dass die nicht immer schön ist, sondern oft rücksichtslos und ziemlich hässlich, wissen wir alle. Auch die wirren rechtsradikalen Auslassungen des Dipl.-Ing. D.I.S. sind in all ihrer menschenverachtenden Qualität Werbung, die zum Kauf ebenso wirrer rechtsradikaler Bücher anregen soll.

Zu dieser naheliegenden Einsicht hätte auch der Artikel in der Berliner Zeitung gelangen können. Indem er das Problem als Schmerzensgeschichte eines von Amazon enttäuschten Top-Rezensenten emotionalisiert und individualisiert, liest er sich allerdings ziemlich unerträglich.

* Drauf gestoßen über einen Thread im Literaturschock-Forum.
** Der YouTube-Kanal ist mittlerweile nicht mehr zugänglich. Das erklärt sich der braune Dipl.-Ing. mit der jüdischen Weltverschwörung (»JewTube«).
*** Kritik hier im umgangssprachlichen Sinne als Bewertung anhand von Maßstäben der Schönheit oder der Nützlichkeit verstanden.

Sonntag, 15. April 2012

Habibi von Craig Thompson

Dies ist keine ausgewachsene Rezension, denn ich staune viel zu sehr über Craig Thompsons Werk, als dass ich es bewerten könnte. Habibi ist einfach in jeder Hinsicht imposant, und Nnedi Okorafors Einschätzung, es sei das beste Buch des Jahres 2011, kann ich in voller Überzeugung zustimmen. Thompsons Zeichnungen, inspiriert von arabischer Kalligraphie und orientalistischer Malerei, sind hinreißend, Seite für Seite. Una à propos Orientalismus: Es ist bemerkenswert, wie Thompson Klischees über »den Orient« aufgreift, ohne ihnen zu verfallen. Er nutzt sie stets, um den Leser_innen unbequem zu sein, ihre Annahmen zu dekonstruieren und Perspektiven zu verschieben.

So viel ich jetzt schreiben könnte über die zahlreichen Bezugnahmen auf koranische, biblische und apokryphe Sagen und die einfühlsame Darstellung der Figuren – es würde doch nur die Lobeshymne auf Thompsons Buch verlängern, das aber einfach so gut, so überzeugend, so ernst ist, dass nur eines zählt: Lest es und lasst euch anrühren, aufwühlen, erschrecken und tut nie wieder so, als ließe euch kalt, was Thompson erzählt.

Nur eines noch: Eine ebenso begeisterte Empfehlung muss ich auch für Thompsons Carnet de Voyage (Tagebuch einer Reise) aussprechen, ein sehr intimes und nachdenkliches Reisetagebuch, welches aus Vorarbeiten zu Habibi entstanden ist und sich geradezu komplementär dazu verhält. Beide Bücher sind in Deutschland bei Reprodukt erschienen. Lesen!

Freitag, 13. April 2012

Neue Delany-Ausgabe bei Golkonda

Wenn ich an deutschen Übersetzungen etwas hasse, dann die Angewohnheit, englische Substantive, die in der Form maskulin sind, aber auf beide akzeptierten Geschlechter angewandt werden, ohne Berücksichtigung des Kontextes auch im Deutschen in der maskulinen Form wiederzugeben, obwohl für den Bedarfsfall eine korrekte feminine Form vorläge. Sagt in einem englischen Text eine Frau einen Satz wie »I am a teacher« und heißt es dann in der Übersetzung denkfaul »Ich bin Lehrer«, dann kriege ich Lust, das Buch an die Wand zu schmeißen. Denn abgesehen davon, dass es korrekterweise »Ich bin Lehrerin« heißt und sich an dieser Stelle niemand damit herausreden kann, Frauen seien in der maskulinen Form »mitgemeint«, wirkt eine solche Übersetzungsweise unter Umständen sogar sinnentstellend. Das ist mir soeben wieder mal vor Augen geführt worden, und zwar in einer deutschen Ausgabe von Samuel R. Delanys Tales of Nevèrÿon, die ich vor kurzem antiquarisch gekauft habe.

Den Geschichten aus Nimmerya ist ein Zitat von Gayatri Chakravorty Spivak vorangestellt, der bekannten postkolonialen Theoretikerin. Es stammt aus dem Vorwort, das Spivak zu ihrer englischen Übersetzung von Jacques Derridas Hauptwerk De la grammatologie verfasst hat und lautet im Original so:
[T]he notion that the setting up of unitary opposites is an instrument and a consequence of “making equal,” and the dissolving of opposites is the philosopher’s gesture against that will to power which would mystify her very self. (p. XXVIII)
In der Übersetzung des Delany-Buches von Annette Charpentier ist das Zitat folgendermaßen wiedergegeben:
So entsteht der Gedanke, daß das Aufstellen von gleichartigen Oppositionen ein Instrument und eine Konsequenz der »Gleichmacherei« ist und die Auflösung von Gegensätzen die Geste des Philosophen gegen jene [sic!] Willen zur Macht darstellt, der sie selber in ihrem Kern mystifiziert.
Was ist passiert? Der abschließende Relativsatz ist in der Übersetzung aus zwei Gründen völlig unverständlich geraten. Zunächst ist unklar, worauf sich das Relativpronomen bezieht. Das liegt aber einfach daran, dass es im Text versehentlich »jene Willen zur Macht« heißt, wo eigentlich »jenen Willen zur Macht« stehen müsste. Wahrscheinlich ein einfacher Flüchtigkeitsfehler – so etwas kommt vor und ist leicht zu beheben. Dann aber wird es wirklich rätselhaft: Wer ist »sie«, die vom Willen zur Macht mystifiziert wird? Die Antwort erschließt sich, wenn man beachtet, dass Spivak in ihrem Vorwort exemplarisch von »der Philosophin« spricht und sich stets an »die Leserin« wendet, was im Original aber nur an den femininen Personalpronomen zu erkennen ist. Eine Übersetzung des Zitats müsste also eher so lauten:
[D]er Gedanke, dass das Aufstellen von einheitlichen Gegensätzen ein Instrument und eine Konsequenz der »Gleichmacherei« ist und das Auflösen von Gegensätzen die Geste der Philosophin gegen jenen Willen zur Macht darstellt, der sie selbst vor ein Rätsel stellen würde.
Alles klar? Das Problem lässt sich auflösen, indem man von dem sinnlosen Widerstand gegen feminine Wortendungen ablässt. Ist übersetzungsmäßig gar nicht so schwer, und bei den komplexen Gedankengängen Spivaks sollte man sich die Sache doch nicht zusätzlich komplizieren.

Angesichts rezenter Übersetzungsdiskussionen passt dieser Beitrag zeitlich ja ganz gut ins Bild, hinaus wollte ich zum Schluss allerdings noch auf etwas anderes: Im Golkonda-Verlag erscheint eine überarbeitete Neuausgabe von Delanys Nimmèrÿa-Geschichten, und zwar mit Panorama-Cover. Da darf man doch hoffen, dass die Neuausgabe zum Anlass genommen wurde, solche Verdrehtheiten wie die oben beschriebene zu beseitigen. So könnte ein Autor zu neuen Ehren kommen, der in der Ahnengalerie der Sword’n’Sorcery leider oft übersehen wird.

Mittwoch, 11. April 2012

Neuzugänge

  • Richard Adams, Maia – die Subanierin
    Jetzt fehlt mir nur noch ein Teilband.
  • Jorge Amado, Dona Flor und ihre zwei Ehemänner
  • Heinrich Böll, Das Brot der frühen Jahre/Ende einer Dienstfahrt (Omnibus-Ausgabe)
  • Sarah Diemer, The Dark Wife
  • Nadine Gordimer, July’s Leute
  • Barry Hughart, Die Brücke der Vögel (Krüger-Hardcover)
  • Sean McMullen, Seelen in der großen Maschine
  • Cordwainer Smith, Herren im All
  • Thomas Ziegler/Uwe Anton, Zeit der Stasis

Dienstag, 10. April 2012

Deppenranking

Günter Grass hat ein Gedicht »Was gesagt werden muss« in der Süddeutschen Zeitung, in La Repubblica und in El País veröffentlicht. Der Inhalt des Gedichts, so der Text selbst, unterliege einem Verdikt allgemeinen Schweigens, dessen Missachtung bestraft werde – eine Art Zensur also. Dies von einem Text zu behaupten, der in führenden Tageszeitungen dreier europäischer Länder erscheint, würde an sich schon ausreichen, um zu erkennen, dass sein Verfasser nicht mehr alle Tassen im Schrank haben kann. Da es sich aber um einen politische Stellungnahme zum Nahostkonflikt handelt, muss man auf solche Idiotien gefasst sein. Es ist ja nicht so, dass Grass, was dies betrifft, der erste wäre. Seine fast schon zirkulär zu nennende Entwicklung vom SS-Mann über den schwadronierenden Erfinder von sechs Millionen ermordeten Deutschen zum als »Freund Israels« getarnten Antisemiten ist nur besonders folgerichtig. Aber wer sind seine Vorläufer, was zeichnet sie aus und für wie bescheuert muss man sie halten?
  1. An erster Stelle ist der portugiesische Literaturnobelpreisträger José Saramago zu nennen. Der meinte 2002, als die israelische Armee (aufgrund der zweiten Intifada) die Stadt Ramallah abriegelte, diese Blockade geschehe »im Geiste von Auschwitz« und verwandle den Ort in ein Konzentrationslager. In Saramagos Worten werden die Opfer des industriellen Judenmords zu seinen Vollstreckern. Diese Vertauschung ist die Fortsetzung des Holocaust mit anderen Mitteln. Wer Opfer zu Tätern ihrer eigenen Vernichtung macht, will nichts anderes, als diese Vernichtung auf besonders perfide Weise zu rechtfertigen und zu glorifizieren. Mit seiner Aussage hat Saramago sich zum Erfüllungsgehilfen des eliminatorischen Antisemitismus gemacht.
  2. Dicht auf liegt der norwegische Autor Jostein Gaarder, der bekannte Verfasser von Sofies Welt. Mit Bezug auf den Libanonkrieg 2006 (der durch bewaffnete Übergriffe der Hisbollah auf israelisches Gebiet ausgelöst wurde) behauptete er in der Zeitung Aftenposten, der Staat Israel führe diesen Krieg, weil er »als Gottes auserwähltes Volk« handele. Dem Judentum einen fehlgeleiteten »Erwählungsstolz« vorzuwerfen, folgt einem uralten Topos des christlichen Antijudaismus.* Später behauptete Gaarder, er habe lediglich die religiöse Legitimation politischer Handlungen kritisieren wollen. Dabei vermischt er selber religiöse und politische Größen: Die religiöse Überzeugung des Judentums, mit Gott in einem besonderen Bund zu stehen, setzt er mit politisch-militärischen Entscheidungen der israelischen Regierung gleich. Wie jeder gute Antisemit wirft Gaarder seinem Feindbild das vor, was er selber betreibt. Zudem bezeichnete er in seinem Ausgangsartikel die Zugehörigkeit zum Judentum als »Verbrechen gegen die Menschlichkeit«. Damit verwendet er einen Begriff, der zur Bezeichnung der NS-Untaten geschaffen wurde, in einem schockierend unpassenden Kontext und setzt zwar nicht wie Saramago Opfer und Täter des Holocausts, dafür aber das Judentum mit dem Faschismus gleich.
  3. An dritter Stelle kommt nun Günter Grass. Er will weder den Holocaust rechtfertigen noch dem christlichen Antijudaismus Auftrieb geben, sondern behauptet irrlichternderweise sogar, dem Land Israel verbunden zu sein. Indem er aber (ohne jeden Anhalt in der realen politischen Lage) behauptet, Israel wolle in einem nuklearen Erstschlag das iranische Volk auslöschen, dreht auch er die Opfer-Täter-Relation um. Und indem er dem jüdischen Staat unverhohlen Mord- und Blutgier unterstellt, stellt er sich in die bis ins 20. Jahrhundert reichende Tradition der Ritualmordlegenden, mit der dem Judentum vornehmlich zur Osterzeit vorgeworfen wurde, Menschen zu entführen und rituell zu schlachten. In diesem Sinne sind auch Grass’ Äußerungen eindeutig antisemitisch, stehen in antisemitischer Tradition und führen diese ahnungs- und bedenkenlos fort.
  4. Auf dem vierten Platz folgt, nicht weit abgeschlagen, der schwedische Krimi-Autor Henning Mankell. Mankell ist der klassische Linksliberale, der die Dritte Welt, die schwedische Gesellschaft und alle möglichen anderen Leute und Orte retten oder mit seinen Ansichten beglücken will. Das ist auch der Grund, weshalb er niemals eine echte kritische Haltung entwickeln wird. Zu Israel meint er, dass seine Gründung völkerrechtlich illegitim sei und sanktioniert werden müsse.** Mankell ist entsetzlich dumm, hat keine Ahnung von der Geschichte des Nahen Ostens und glaubt sich moralisch im Recht. Indem er rein politisch gegen die Existenz des jüdischen Staates argumentiert, ermöglicht er den anderen Schreibtischtätern erst ihre antisemitischen Ausfälle.
Betrachtet man nun die Plätze von eins bis vier, ergibt sich also eine Abstufung, die bei offener Dreistheit anfängt und bei grenzenloser Dummheit aufhört. Offensichtlich ist aber auch, dass Dreistheit und Dummheit sich wechselseitig bedingen und der jeweils anderen das Feld bereiten können. Man könnte die Rangfolge umkehren und fände das Ergebnis nicht weniger deprimierend. Auf unterschiedliche Weise, vielleicht auch mit individuell unterschiedlichen Beweggründen, halten es alle genannten Autoren für unter ihrer Würde, sich die Welt mit dem Judentum und dem jüdischen Staat zu teilen. Deshalb sind bzw. waren sie*** die intellektuelle Speerspitze des gegenwärtigen Antisemitismus – Mankell nicht weniger als Saramago.

* Vgl. dazu z.B. Christhard Hoffmann, Das Judentum als Antithese. Zur Tradition eines kulturellen Wertungsmusters, in: Werner Bergmann/Rainer Erb (Hgg.), Antisemitismus in der politischen Kultur nach 1945, Opladen 1990, S. 20–38.
** Da Israel zu über 160 weiteren Staaten diplomatische Beziehungen unterhält und in den maßgeblichen supranationalen Organisationen vertreten ist, kann an seiner völkerrechtlichen Legitimität eigentlich nicht gezweifelt werden. Mankell scheint zu glauben, dass Israel irgendwelche Sonderkonditionen zu erfüllen habe, um völkerrechtliche Anerkennung zu genießen. Warum das so sein sollte, bleibt sein Geheimnis.  
*** José Saramago ist 2010 gestorben.

Foto-Disclaimer

Das Foto im Blog-Header wurde freundlicherweise von Sandra Rugina zur Verfügung gestellt. Es zeigt den Bâlea-See in den rumänischen Karpaten. Alle Rechte liegen bei der Autorin.