Samstag, 30. November 2013

Doris Lessing (1919–2013)

Nach ihrem friedvollen Tod wird das Bild, das von Doris Lessing bleibt, divergenter sein als je zuvor. War sie eine feministische Autorin? Eine vom Feminismus vereinnahmte Autorin? Hatte sie es sich selbst zuzuschreiben, wenn sie von reaktionären Männerrechtlern für ihre Ablehnung der Frauenbewegung Beifall erhielt? Ein wenig von allem, würde ich sagen. Aber Lessing war nicht einfach nur widersprüchlich, sie war vielseitig.

»Erfahrung, die von Mund zu Mund geht, ist die Quelle, aus der alle Erzähler geschöpft haben.« So Walter Benjamin, und weiter: »[Der Erzähler ist] ein Mann, der dem Hörer Rat weiß. Wenn aber ›Rat wissen‹ heute altmodisch im Ohre zu klingen anfängt, so ist daran der Umstand schuld, daß die Mitteilbarkeit der Erfahrung abnimmt. Infolge dessen wissen wir uns und andern keinen Rat. Rat ist ja minder Antwort auf eine Frage als ein Vorschlag, die Fortsetzung einer (eben sich abrollenden) Geschichte angehend. Um ihn einzuholen, müßte man zuvörderst einmal erzählen können. (Ganz davon abgesehen, daß ein Mensch einem Rat sich nur soweit öffnet, als er seine Lage zu Wort kommen läßt.) Rat, in den Stoff gelebten Lebens eingewebt, ist Weisheit. Die Kunst des Erzählens neigt ihrem Ende zu, weil die epische Seite der Wahrheit, die Weisheit, ausstirbt.«* Benjamin konnte sich offensichtlich nicht vorstellen, dass es auch Erzählerinnen gibt. Ihrem Sinn nach hätte er diese Worte aber auch über Doris Lessing sagen können. Die »Mitteilbarkeit der Erfahrung« ist ihr großes Thema. Die Fehler früherer Generationen nicht wiederholen, sondern der erlebten Geschichte eine andere Fortsetzung geben, diesen Rat könnte man als die Weisheit von Lessings Werk betrachten. Am besten lässt sich das seltsamerweise an einem ihrer weniger gelungenen Bücher erkennen, dem Roman Mara and Dann (1999), der in einem postapokalyptischen Afrika spielt. Er handelt von einer untergehenden Zivilisation, die damit klarzukommen versucht, dass ihr die Fähigkeit, Wissen über die Vergangenheit zu überliefern, abhanden gekommen ist. Die Protagonistin Mara irrt durch eine Welt, über deren Geschichte sie nichts weiß. So lange das so ist, scheint die Botschaft zu sein, ist die Menschheit dazu verurteilt, den Katastrophen ihrer Geschichte hilflos ausgeliefert zu sein.

Mara and Dann mag literarisch wenig beachtlich sein, aber auch ein beeindruckendes, furchteinflößendes Werk wie The Fifth Child (1988) widmet sich dem Komplex von Erfahrung, Erinnerung und Wiederholung. Im Mittelpunkt steht ein junges Paar, das sich von der vermeintlichen Amoralität der sexuellen Revolution der sechziger Jahre abgestoßen fühlt. Seine Reaktion darauf ist, zu heiraten und eine vielköpfige Familie zu gründen. Die viktorianisch anmutende Idylle, mit vier Kindern und einem großen Haus, scheint perfekt, bis mit Ben ein fünftes Kind geboren wird. Ben ist eine genetische Abnormität, ein Neandertaler, der in eine Familie moderner Menschen hineingeboren wird. Im Vergleich zu seinen Geschwistern, die sich perfekt in die Vorstellungen ihrer Eltern vom gelungenen Familienleben eingefügt haben, scheint Ben bösartig und brutal zu sein, ein friedliches Zusammenleben mit ihm unmöglich. Bens Eltern haben mit ihrer Abwendung von der Gegenwart und ihrem Nicht-Reflektieren der Vergangenheit unwillkürlich auch die Albträume ihrer viktorianischen Vorbilder wiederbelebt: Die Angst vor der Degeneration – davor, dass die Minderwertigkeit des missratenen Kindes, das die Familienidylle bedroht (und die Minderwertigkeit der sozialen Schichten, die die Gesellschaftsordnung bedrohen), ein aus der Intimität der Familie selbst stammendes Erbstück sein könnte. Die Fortsetzung Ben, in the World (2000) zeigt dann, dass Ben zwar ein Neandertaler sein mag, aber alles andere als ein Monster ist, höchstens von seiner verständnislosen Umgebung dazu gemacht wurde. Er wird von der Familie, in der kein Platz für ihn ist, verstoßen und zieht in die Welt hinaus, wo es ihm im Grunde auch nicht anders ergeht als uns allen, die wir in der Zeit der vom Aussterben bedrohten Erzählkunst existieren: Er erlebt die Schwierigkeit, sich eine Geschichte über die eigene Herkunft und Zukunft erzählen zu wollen und es nicht zu können.

Aber was hat es nun auf sich mit Lessing und dem Feminismus? Ihr Hauptwerk, The Golden Notebook (1962), wird gerade in sämtlichen Feuilletons mit einem unpassenden Schlagwort als »Bibel des Feminismus« bezeichnet. Für die Frauenbewegung fand Lessing in den Interviews ihrer letzten Jahre aber kaum etwas anderes als harte Worte und Verurteilungen; ebenso für eine Reihe von weiteren sozialen Umwälzungen, die allgemein als positive Errungenschaften gelten, wie die sexuelle Revolution und das Ende des britischen Imperialismus. Ihr Lieblingswort in diesem Zusammenhang war »ein Schlamassel«, im Original: »a mess«. Auf der anderen Seite hat Lessing nie einen Zweifel daran gelassen, dass sie feministische Errungenschaften wie verbesserte Arbeitsmöglichkeiten für Frauen schätzte, und sie sah es als ein wichtiges politisches Ziel für Frauen an, sich vom Zwang zur Reproduktionsarbeit und Kindererziehung zu emanzipieren. Als sie ihren ersten Ehemann, einen Kolonialbeamten, verließ, weigerte sie sich, die zwei aus der Ehe hervorgegangenen Kinder mitzunehmen, weil sie sich lieber dem Schreiben und der Politik widmen wollte. Sie hat diese Entscheidung, die vor dem Hintergrund des in den Dreißigern und Vierzigern herrschenden Zeitgeists nur als revolutionärer Akt zu bezeichnen ist, ihr Leben lang verteidigt.

Lessing war jahrelang in der Kommunistischen Partei und im Left Book Club aktiv. Nach der Niederschlagung des Aufstands in Ungarn 1956 verließ sie die Partei. Eine politische Schriftstellerin blieb sie weiterhin, aber einer organisierten Bewegung mochte sie sich für den Rest ihres Lebens nicht mehr anschließen. Diese Grundhaltung mag zu ihrer Abneigung auch gegenüber der Frauenbewegung beigetragen haben. Dennoch war Lessing nicht einfach nur eine jener hauptberuflichen Ex-Kommunist_innen, die die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts intellektuell so sehr prägten. Ihre schriftstellerischen Auseinandersetzungen mit der KP-Zeit zeugen oft eher von Ironie als von Verbitterung – man lese nur die Erzählung »Spione, die ich gekannt habe«. Lessing hatte einen feinen Blick dafür, dass politischer Aktivismus (selbst dann, wenn er im Recht ist) immer eine theatralisch-komische Komponente hat, und Anlass für Spott bot ihre Beobachtungsgabe ihr reichlich. Mit den Jahren verwandelte sich Lessings ironische Haltung jedoch in polternde Ablehnung, bei der oft nicht klar war, gegen wen oder was sie sich eigentlich richtete. Da blieb es nicht aus, dass ihr auch diejenigen Beifall zollten, die Emanzipation jeglicher Art schon immer für ein Ärgernis hielten. Eine mögliche Erklärung, wenn auch keine Entschuldigung: Immer deutlicher war Lessing in ihren späten Jahren anzumerken, wie wenig sie den Rummel um ihre Person schätzte. So manche grobklotzige Interview-Äußerung mag daher gefallen sein, weil Lessing, um ihre Ruhe zu haben, immer mehr darauf zurückgriff, die Medien kurzerhand mit Schlagwörtern abzuspeisen.

Lessings Spätwerk ist stark von den Ideen des afghanisch-britischen Mystikers Idries Shah beeinflusst. Shah betrachtete die islamische Mystik, den Sufismus, als eine transhistorische Erleuchtungslehre, deren Einsichten ewige Gültigkeit beanspruchen könnten. Im Islam habe der Sufismus nur eine historisch bedingte Form unter vielen möglichen angenommen; sufistische Lehren seien aber auch in anderen mystischen und esoterischen Schulen und sogar im Alltagshandeln der Menschen anzutreffen. Ihr Ziel sei die spirituelle Höherentwicklung der gesamten Menschheit. Mit solchen Ansichten übte Shah einigen Einfluss auf westliche Schriftsteller_innen aus, etwa auf Robert von Ranke-Graves und Colin Wilson.** Doris Lessing gilt jedoch als seine wichtigste literarische Schülerin.

Wer Idries Shahs Lehren dubios findet, hat damit sicherlich recht. Doch zum einen ist die eigentümliche Mischung aus Politik, Phantastik und Faszination für das Okkulte in der britischen Literatur keine Seltenheit, sondern verbindet Namen wie E. Nesbit, W.B. Yeats und Charles Williams miteinander.*** Zum anderen war es vermutlich ein ganz bestimmter Aspekt, der Shahs Lehren für Lessing so anziehend machte: Shah war überzeugt davon, dass es möglich sei, Wissen auf halb- oder unbewusste, intuitive Weise weiterzugeben. Als Medium dafür galten ihm vor allem Geschichten in Form von Märchen, Parabeln und Anekdoten. Die spirituelle Aufwertung des Geschichtenerzählens musste der Erzählerin Lessing gefallen. Auf ihr Werk wirkte Shahs Vorstellung von der intuitiven Wissensweitergabe sich in höchst fruchtbarer Weise aus. Zugleich gibt sie einen Hinweis darauf, wie Lessing sich vorstellte, mit ihren Büchern auch nach dem Ende ihrer Tätigkeit für die KP öffentlich wirken zu können: Nicht anders als durch die »Mitteilbarkeit der Erfahrung«, die Benjamin dem Erzähler zuschreibt (wenn sie bei Lessing auch in ein etwas krudes esoterisches Gewand gekleidet ist).

Die Literaturkritik hat das in ihrer manchmal herablassenden Haltung gegenüber Lessings Werk bestärkt. Die Überzeugungen ihrer Spätphase trugen ihr verächtliche Bezeichnungen ein: Sie sei eine orakelnde Erdmutter, die drittklassige Science Fiction schreibe. Lessing reagierte gelassen auf solche Herabsetzungen. Dass sie von manchen als Genreschriftstellerin angesehen wurde, störte sie nicht. Ihre Hinwendung zum Genre (zur Space Fiction, wie sie es nannte) war eine sehr bewusste; und diejenigen ihrer Werke, die ihre oft seltsame Weltanschauung zum Ausdruck bringen, gehören zu ihren interessantesten. Man benötigt einen unvoreingenommenen Blick, um zu erkennen, dass Inspiration und erzählerische Kraft manchmal von ungewöhnlichen Orten ausgehen. Doris Lessing scheute sich nicht, mit ihrem Werk diese Erkenntnis zu vermitteln. 

* Benjamin betont übrigens, dass es sich bei diesem Aussterben nicht um ein Zeichen von Werteverfall handelt, sondern sagt ganz nüchtern materialistisch, dass es »eine Begleiterscheinung säkularer geschichtlicher Produktivkräfte« ist.
** Im Grunde wandte Shah damit eine Auffassung auf den Islam an, die in der westlichen Esoterik gang und gäbe ist: Auch über die Kabbala (die jüdische Mystik) und die Gnosis (eine frühchristliche Strömung, die zu kosmologischen Spekulationen neigte) wurde gesagt, dass sie ewige, universale Ideen seien, die sich im Judentum respektive im Christentum nur  »inkarniert« hätten.
*** Wobei auffällig ist, dass die zugrundeliegende politische Haltung sowohl eine linke als auch eine christlich-konservative sein kann. 

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Foto-Disclaimer

Das Foto im Blog-Header wurde freundlicherweise von Sandra Rugina zur Verfügung gestellt. Es zeigt den Bâlea-See in den rumänischen Karpaten. Alle Rechte liegen bei der Autorin.