Freitag, 30. Mai 2014

Sigrid Löffler auf Literatursafari

Was nur macht es für deutschsprachige Literaturkritiker_innen so attraktiv, den Provinztrottel zu geben und sich dabei als Mittelpunkt der Welt zu fühlen? Ich verstehe es nicht und werde auch gar nicht erst versuchen, es zu verstehen. Einen Erklärungsversuch unternimmt der Romanist János Riesz.* Die Sachlage scheint mir klar zu sein: In der hiesigen Kritik herrscht eine weitgehende Ignoranz gegenüber postkolonialer Literatur. Riesz bringt ein aufschlussreiches Zitat aus einer Rezension, die Uwe Timm für die Zeit verfasste:
Das Buch, ein Roman von 351 Seiten, hat die besten Chancen, keine Leser und Leserinnen zu finden, und das, obwohl es voller Witz und Phantastik ist, spannend, informativ, kurzum ein ganz und gar ungewöhnliches Buch. Vor vier Monaten erschienen, ist es im deutschen Feuilleton bislang noch nicht besprochen worden. Woran liegt es, daß ein Roman derart unbeachtet bleibt? Die Antwort ist einfach: Der Autor ist Afrikaner. Der Roman spielt in Afrika, erzählt von Afrika.
Das Buch ist Die Nächte des großen Jägers von Ahmadou Kourouma, ein in der Tat höchst lesenswerter magisch-realistischer Diktatorenroman. Timm gehört zu den wenigen biodeutschen Schriftsteller_innen, die sich überhaupt ernsthaft mit dem Kolonialismus und seinen Folgen auseinandergesetzt haben, und ihm ist in seiner Einschätzung recht zu geben. Als Wole Soyinka 1986 den Literaturnobelpreis erhielt, lautete die patzige Reaktion eines deutschsprachigen Kritikers, das sei ja gut und schön, so lange er jetzt nicht gezwungen werde, Soyinkas Bücher zu lesen. Die Botschaft ist nicht schwer zu entziffern: Ein afrikanischer Autor, das kann ja keine richtige Literatur sein, sondern höchstens Dritte-Welt-Kitsch, der uns Kulturmenschen von naiven Multikulti-Aposteln aufgedrängt wird.

Nun hat mit Sigrid Löffler eine einflussreiche Kritikerin die postkoloniale Literatur entdeckt. In ihrem Buch Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler verkündet sie, das Neue daran sei, »dass es sich um globale Literatur handelt, die Autoren aus Weltgegenden stammen, von denen man bisher gar nicht geahnt hatte, dass dort Literatur entstehen könnte«. So sagt es Löffler in einem Interview mit der taz. Sie sagt es wirklich. Geschenkt, dass sie von »Weltgegenden« faselt, die ihrer (sicherlich wohlinformierten) Ansicht nach »bisher zum Teil weder eine Literatur noch eine Literatursprache hatten«. Das entspricht nur dem stereotypen Bild, das viele Weiße von den Ländern des Südens haben: Die Menschen dort schreiben keine Bücher, weil sie viel zu sehr damit beschäftigt sind, arm (und im Grunde glücklich!) zu sein – und wenn von ihnen doch mal was veröffentlicht wird, dann sind es autobiographische Berichte über Genitalverstümmelung oder das Leben als Kindersoldat, die mit der Hilfe westlicher Journalist_innen für ein westliches Publikum verfasst werden.

Auffällig an Löfflers Aussage finde ich eher, dass sie die postkoloniale Literatur als »global« qualifiziert, weil sie aus jenen mysteriösen, bis vorgestern noch buchlosen »Weltgegenden« stamme. Glaubt sie etwa, dass die westliche Literatur, die in englischer oder französischer Sprache verfasst wird, nicht auf dem gesamten Globus gelesen wird? So dumm wird sie nun auch wieder nicht sein. Löfflers globale Literatur wird »von Migranten geschrieben, ist Migrationsliteratur«. Aber Henry James, Ezra Pound und T.S. Eliot, die es aus den USA nach Europa zog, würde sie wahrscheinlich nicht als Verfasser von »globaler« oder »Migrationsliteratur« bezeichnen. Die sind höchstens Weltliteratur, was wohl heißen soll: Ihre Heimat ist die Welt, nicht irgendwelche »Weltgegenden«. Wie ja westliche Schriftsteller_innen überhaupt nie Migrationsliteratur verfassen, sondern höchstens Reiseliteratur. Ein anderer US-Amerikaner, Paul Bowles, konnte 50 Jahre lang in Tanger leben und schreiben, ohne dass jemand auf die Idee gekommen wäre, ihn einen Migrationsliteraten zu nennen.

Ich weiß nicht, was ich zweifelhafter finden soll, die bisher gepflegte Ignoranz gegenüber postkolonialer Literatur oder Löfflers Versuch, sie zu rezipieren, indem man ihr das Etikett »globale Literatur« anklebt und als etwas ganz und gar neues darstellt. In der Folge will ich eine Aussagen aus dem Interview mit Löffler genauer betrachten:
Ich habe von jeher diese Literatur gelesen, von den frühen Werken von Naipaul, Rushdie oder Coetzee angefangen. Außereuropäische Literatur ist heute nicht mehr das Thema von Nischen- oder Spezialverlagen.
Wie bitte? Von jeher? Rushdie und Coetzee haben ihre ersten Werke Mitte der siebziger Jahre veröffentlicht. Die postkoloniale Literatur begann aber viel früher, noch während der Kolonialzeit. Wenn ich mich auf Afrika als Beispiel beschränke, dann waren vor allem die fünfziger und sechziger Jahre eine Zeit, in der zahlreiche Klassiker erschienen. Im Bereich der englischsprachigen Literatur wären vor allem Chinua Achebes Things Fall Apart (1958), Ngũgĩ wa Thiong’os The River Between (1965) und The Interpreters von Wole Soyinka (1965) zu nennen. Im frankophonen Bereich ging es noch etwas früher los: Camara Layes L’Enfant noir erschien 1953, Le pauvre Christ de Bomba von Mongo Beti 1956 und Ousmane Sembènes O pays, mon beau peuple 1957. Aber wahrscheinlich ist diese Literatur Löffler nicht »global« genug. Dann sollte sie sich vielleicht mit der – zu recht kritisierten, aber dennoch bedeutenden – afrikanisch-karibisch-französischen Literaturbewegung der Négritude auseinandersetzen, deren große Zeit in den dreißiger und vierziger Jahren lag.

Kurze Abschweifung, denn für das Fantasy-Publikum von besonderem Interesse ist ein Roman mit dem vielleicht großartigsten Titel der Literaturgeschichte, den ich zu dieser Gelegenheit ausdrücklich empfehlen möchte: The Palm-Wine Drinkard and His Dead Palm-Wine Tapster in the Deads’ Town von Amos Tutuola. Der Debütroman des nigerianischen Schriftstellers, den Michael Swanwick »one of the best writers of fantasy in world literature« nannte, erschien erstmals 1952. Sein Ich-Erzähler und Queste-Held verbringt seine Tage am liebsten damit, große Mengen Palmwein zu trinken. Als sein vielbeschäftigter Palmweinzapfer stirbt, macht er sich auf die Suche nach der Stadt der Toten, um den Verstorbenen wieder mit ins Land der Lebenden zu nehmen. Das Erscheinungsdatum von Tutuolas Roman macht ihn gewissermaßen zu einem afrikanischen Gegenstück des Lord of the Rings, und zwar eins, das keinen Pfifferling auf westliche Stil- und Erzählkonventionen gibt. Übrigens: Wenn Diskussionen, wie Tolkien-Fans sie führen, über die Darstellung der schwarzen Haradrim als brüllende, mit den Augen rollende Wilde an den Punkt gelangen, an dem wieder einmal behauptet wird, Tolkien hätte das zwangsläufig so machen müssen und umgekehrt hätte ein afrikanischer Autor die Weißen sicherlich ebenso verzeichnet, dann kann man getrost auf Tutuola verweisen. In The Palm-Wine Drinkard gibt es weit und breit keine uniform als blutrünstig und kriegsversessen dargestellten weißen Horden. Komisch aber auch.

Doch zurück zu Löffler:
Inzwischen halten es auch die großen Publikumsverlage für geboten, einen afrikanischen, asiatischen oder karibischen Autor im Programm zu haben. Und so schien mir der Moment jetzt richtig, einem deutschsprachigen Publikum eine Art Überblick über diese nach dem Zweiten Weltkrieg neu entstandene Literatur zu geben, die immer wichtiger wird.
Unzweifelhaft tut sich im Moment einiges. Postkoloniale Literatur erscheint in Deutschland nicht mehr exklusiv bei Suhrkamp und Peter Hammer. Taiye Selasi hat nicht nur mit Ghana Must Go, sondern auch mit ihrer Begriffsprägung Afropolitan Aufsehen erregt. Dieses Jahr ist seit längerer Zeit erstmals wieder ein Roman von Zadie Smith ins Deutsche übersetzt worden. Nnedi Okorafor und Helen Oyeyemi – zwei Fantasy-Autorinnen mit nigerianischen Wurzeln, die eine in den USA, die andere in Großbritannien lebend – genießen literarisches Ansehen auch außerhalb von Genregrenzen. Aber wäre es in dieser Situation nicht wichtig, darauf hinzuweisen, dass postkoloniale Literatur nicht erst gestern auf der Bildfläche erschienen ist, sondern eine Geschichte hat? Löffler sieht das nicht so:
Ich schreibe keine Literaturgeschichte. Ich versuche einen noch unbekannten literarischen Kontinent, der gerade auftaucht, vorläufig zu kartografieren.
Ein unbekannter Kontinent, schau an. Hat man sich ihr Unternehmen als literaturkritisches Äquivalent zu Stanleys Kongo-Expeditionen vorzustellen? Vergessen Sie auch in Zukunft nicht, Khaki-Anzug und Tropenhelm für ihre literarischen Reisen einzupacken, Frau Löffler! Es ist immer besser gut gerüstet zu sein, wenn man sich in unkartographiertes Gebiet begibt, um dort als überlegene Entdeckerin aufzutreten. Denn überlegen fühlt Löffler sich:
Mein Thema ist die postkoloniale Literatur und nicht die Literatur, die noch einmal den Kolonialismus ins Auge fasst. [...] Und dass diese Literatur noch nie in einem Kontext gesehen wurde, schien mir ein Manko, dem ich mit diesem Buch abhelfen wollte.
Eine echte Pionierin im postkolonialen Dschungel also, immer auf der Jagd nach literarischem Elfenbein. Aber wie will sie postkoloniale Literatur von »Literatur, die noch einmal den Kolonialismus ins Auge fasst« trennen? Kann man die Folgen des Kolonialismus thematisieren, indem man den Kolonialismus ignoriert? Beinhaltet das eine nicht notwendigerweise das andere? Anscheinend nicht, denn Löffler reduziert postkoloniale Literatur mehr oder weniger auf Werke, die Migrationserfahrungen thematisieren. Und selbst diese reduziert sie noch einmal auf Einwanderung in die ehemaligen kolonialen Mutterländer. Was bei Löffler weitgehend außen vor bleibt, ist die Süd-Süd-Migration, bei der es gerade nicht um eine Bewegung von der südlichen Peripherie in die nördlichen Zentren geht. Insbesondere die lateinamerikanische Literatur bietet dafür zahlreiche Beispiele – von Gabriel García Márquez, der seinen Lebensabend in Mexiko verbrachte, über Gioconda Belli, die wegen der Somoza-Diktatur Nicaragua verließ und (wie viele verfolgte Intellektuelle) in Costa Rica Zuflucht fand, bis hin zu Roberto Bolaño, dessen »Wanderungen quer durch den lateinamerikanischen Kontinent« von Löfflers Interviewer genannt werden.** Süd-Süd-Migration gibt es auch in Afrika, wie das Beispiel Nuruddin Farahs zeigt, der in Indien studierte und, nachdem er sein Heimatland Somalia in den Siebzigern verlassen hatte, u.a. in Nigeria, Gambia, im Sudan, in Uganda, Äthiopien und Südafrika lebte. Postkoloniale Literatur wird nicht erst dann bedeutend, wenn sie von den Erfahrungen ihrer Autor_innen mit Europa oder Nordamerika handelt.

Löffler interessiert das alles scheinbar nicht. Die lateinamerikanische Literatur ist ihr größtenteils schon deshalb egal, weil sie sich aus unerfindlichen Gründen auf »die globale Literatur aus Asien, aus Afrika und aus der Karibik« beschränken will, und diese dann nochmals zeitlich, räumlich und sprachlich eingrenzt, indem sie kurzerhand das Ende des britischen Empire zum Anfangspunkt der postkolonialen Literatur erklärt. Und sonst so? Wie geht Löffler mit Kritik an ihren Leerstellen und blinden Flecken um?
[D]ass nun jeder mit seinen Partikularkenntnissen daherkommt und sagt, warum kommt der chinesische Dichter Ping-Pong nicht vor, das habe ich fast erwartet. Das ist aber kleinlich und nörglerisch.
Nun ja, damit dürfte endgültig klar sein, dass Löffler weder von ihrem Einfühlungsvermögen noch von ihren Kenntnissen her qualifiziert ist, ein Buch zum Thema postkoloniale Literatur zu schreiben. Nicht, so lange sie das abstoßende Herrenmenschen- und Entdeckergehabe pflegt, das in diesem Interview zum Vorschein kommt. Aber gut. Falls Löffler demnächst nicht mehr mit »globaler Literatur«, sondern mit ihren Partikularkenntnissen über irgendwelche dichtenden Lieschen Müllers und Hans-Ottos aus Kartoffelland beeindrucken will, kann ich mir einfach achselzuckend denken, dass ich unter den deutschsprachigen Autor_innen ohnehin lieber solche mit Migrationserfahrungen lese. Wie zum Beispiel Thomas Mann, Walter Benjamin oder Jean Améry.

Ein Schmankerl zum Schluss:
Unterhaltungsliteratur [...] habe ich nicht aufgenommen.
Hätte sie mal tun sollen. Dann wäre sie vielleicht auf solche Klassiker der globalen Migrationsliteratur wie Alexandre Dumas und Adelbert von Chamisso gestoßen.

* János Riesz, Die »unterbrochene Lektion«. Deutsche Schwierigkeiten im Umgang mit afrikanischer Literatur, in: Susan Arndt (Hg.), AfrikaBilder. Studien zu Rassismus in Deutschland, Münster 2006, S. 162–174.
** Erwähnenswert ist auch der Kosmopolit Borges, der auf Spanisch schrieb, mit seinen Eltern Englisch sprach, die deutsche Literatur bewunderte und großes Vergnügen aus der Beschäftigung mit Angelsächsisch und Altnordisch zog (ja, ganz wie Tolkien), und dennoch fast sein ganzes Leben in Argentinien verbrachte.  

Dienstag, 27. Mai 2014

Neuzugänge

  • Clive Barker, Cabal (deutsche Ausgabe)
  • Timothy Findley, Die letzte Flut
  • Greer Ilene Gilman, Moonwise
  • William Goldman, Adventures in the Screen Trade: A Personal View of Hollywood and Screenwriting
  • Marie Hermanson, Das englische Puppenhaus. Erzählungen
  • Amanda Prantera, Die Königstochter aus Fanien
  • Andrzej Sapkowski, Narrenturm
  • Ders., Lux perpetua
  • Guillermo del Toro u.a., Don’t Be Afraid of the Dark: Blackwood’s Guide to Dangerous Fairies

Foto-Disclaimer

Das Foto im Blog-Header wurde freundlicherweise von Sandra Rugina zur Verfügung gestellt. Es zeigt den Bâlea-See in den rumänischen Karpaten. Alle Rechte liegen bei der Autorin.