Samstag, 20. Mai 2017

Modern Fairy Tales: Catherine Sinclair

Ich lese gerade das Oxford Book of Modern Fairy Tales von vorne nach hinten und habe mir vorgenommen, zu jedem Eintrag ein paar Zeilen zu schreiben. Herausgegeben wurde die Anthologie von Alison Lurie, die sich in Danksagungen und Vorwort als Schülerin von Jack Zipes erweist. Das passt mir schon mal sehr gut!

Modern Fairy Tales sind in diesem Band Kunstmärchen, also nicht etwa Märchen, die aus der literarischen Moderne (modernism) oder ganz allgemein aus der Neuzeit (modernity) stammen. Das Kunstmärchen ist in der deutschen Romantik entstanden; vor allem Novalis, Tieck, Chamisso, Fouqué und Hoffmann taten sich in der Gattung hervor. Ihnen folgte Andersen in Dänemark, der in Großbritannien begeistert gelesen wurde. Die Beliebtheit Andersens beim britischen Publikum gab den Ausschlag, dass englische Autor_innen begannen, selbst Kunstmärchen zu verfassen. Dabei sahen sie sich nach Vorbildern um, und bekamen schließlich auch welche: 1827 gab der germanophile Thomas Carlyle zwei Bände German Romance heraus, in denen (von Carlyle selbst übersetzte) Texte von Musäus, Tieck, Fouqué, Hoffmann und Jean Paul versammelt waren. Carlyles Bemühungen taten ihre Wirkung: Das wohl bekannteste englische Kunstmärchen des 19. Jahrhunderts, Dickens’ Christmas Carol, ist unübersehbar eine Hommage an Hoffmanns Goldnen Topf.

Vor diesem literaturgeschichtlichen Hintergrund erklärt sich, warum der erste Eintrag im Oxford Book of Modern Fairy Tales aus dem Jahr 1839 stammt (was man sonst für einen willkürlich gewählten Einstieg hätte halten können): Die Produktion von Kunstmärchen begann in Großbritannien einige Jahrzehnte später als in Deutschland. Dieser Abstand markiert die Zeit, die das Kunstmärchen der deutschen Romantik brauchte, um (zunächst über den Umweg Dänemark, dann dank Carlyle auch direkt) in Großbritannien rezipiert zu werden. Beginnt die Sammlung im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts, so endet sie an der Epochenschwelle 1989. Beiträge aus dem 20. Jahrhundert stammen u.a. von Lord Dunsany, T. H. White, Philip K. Dick, Naomi Mitchison, Tanith Lee, Angela Carter und Ursula K. Le Guin – alles Namen, die Fantasy-Leser_innen nicht unbekannt sein dürften. Das ist nur folgerichtig, denn aus dem Kunstmärchen des 19. Jahrhunderts ist die High Fantasy des 20. Jahrhunderts entstanden. Anhand von Luries Anthologie lässt sich diese Entwicklung wunderbar nachvollziehen.

Von den 40 Beiträgen stammen mindestens 17 von Frauen und/oder schwullesbischen Menschen. Alle Beiträge sind entweder aus Großbritannien und den USA; Übersetzungen aus anderen Sprachen sind nicht dabei. Wenige Beiträge stammen dabei von Autor_innen, die als Kinder von Einwanderern aus Polen, Russland und Schweden in den USA geboren wurden. Mit Louise Erdrich ist eine amerikanische Ureinwohnerin dabei. An dieser Stelle möchte ich noch kurz auf ein Versäumnis aufmerksam machen: Ich hätte mir gewünscht, dass die Anthologie mit Sara Coleridges Phantasmion (1837) beginnt, einem heute außerordentlich schwer zu bekommenden Text, der seinerzeit aber einigen Einfluss ausübte.

Nun aber zum ersten Eintrag: »Uncle David’s Nonsensical Story about Giants and Fairies« (1839) von Catherine Sinclair (1800–64). Die Autorin war mir völlig unbekannt, deshalb habe ich mir ein paar Informationen aus Wikipedia und Luries biographischen Hinweisen zusammengeklaubt: Catherines Vater war der schottische Politiker Sir John Sinclair, der seine vierzehnjährige Tochter zwang, als Sekretärin für ihn zu arbeiten. Sir John ist in die Geschichte eingegangen aufgrund des fragwürdigen Verdienstes, die Statistik erfunden zu haben – jedenfalls war er der erste, der das Wort verwendete. Sein Hauptwerk, die Statistical Accounts of Scotland, umfasst monumentale 21 Bände. Man kann sich lebhaft vorstellen, wie grauenhaft es gewesen sein muss, die Sekretärin dieses Menschen gewesen zu sein. Als ihr Vater starb, war Sinclair 34, und sie konnte sich endlich ihren Traum erfüllen, Schriftstellerin zu werden. Ihr erfolgreichstes Werk ist Holiday House, ein Roman für Kinder, der den seinerzeit ungewöhnlichen Versuch unternimmt, über das Leben von Kindern zu berichten, ohne dabei allzuviel zu moralisieren. Indirekt kommt die Moral aber durchaus vor, nämlich in Form von Geschichten, die die kindlichen Held_innen von Erwachsenen erzählt bekommen. Eine dieser Geschichten ist »Uncle David’s Nonsensical Story«.

Der Protagonist ist ein Junge, sichtlich aus dem gehobenen viktorianischen Bürgertum stammend, der Lernen und Schule hasst und Essen und Süßigkeiten über alles liebt. Eines Tages erscheinen ihm zwei Feen, die ihm anbieten, eine Zeit lang auf einem ihrer Schlösser zu leben. Auf dem Schloss von Fee Nr. 1 wird viel gelernt und gearbeitet, auf dem Schloss von Fee Nr. 2 gibt es degegen ein ununterbrochenes Festmahl. Der Protagonist entscheidet natürlich für die letztere Option, merkt aber bald, dass es alles andere als ein Vergnügen ist, pausenlos essen zu müssen. Außerdem weiß er nicht, dass Fee Nr. 2 mit einem menschenfressenden Riesen im Bund steht, der sich von den gemästeten Kindern ernährt, die in der Obhut der bösen Fee stehen. Helfen kann dem armen Jungen dann natürlich nur noch Fee Nr. 1.

Es handelt sich unübersehbar um eines jener Kunstmärchen, die eine allegorische Bedeutung zu verabreichen haben, und zwar mit einer Subtilität, die an einen Schlag mit der Bratpfanne auf den Kopf erinnert: Der Protagonist heißt Master No-book, die gute Fee trägt den Namen Teach-all und lebt im Palace of Knowledge, während ihre Gegenspielerin Do-nothing das Castle Needless bewohnt. Am Ende wird dann noch ausdrücklich erklärt, worauf es im Leben ankommt: »diligent, active, happy« zu sein und ja nicht zu faulenzen oder zu schlemmen. Hätte Tolkien für seine scharfen Worte gegen Allegorien in fairy-stories ein konkretes Beispiel gesucht, »Uncle David’s Nonsensical Story« wäre dafür wie geschaffen.

Natürlich legt Sinclair diese Moral einer Figur ihres Romans in den Mund, kennzeichnet sie gleich im Titel als Unsinnsgeschichte und lockert sie auch im Text durch ironische Übertreibungen auf. Man sollte sie daher nicht vorschnell mit den Ansichten der Autorin gleichsetzen. Ein Lesevergnügen ist die Geschichte aber ganz und gar nicht, sondern eigentlich nur von historischem Interesse, weil sie ein Beispiel dafür ist, wie in der viktorianischen Zeit versucht wurde, Kindern über das Erzählen von Geschichten eine zu Industrialisierung und Konkurrenzkapitalismus passende Arbeitsmoral einzuimpfen.

Der nächste Beitrag ist »Feathertop« (1846) von Nathaniel Hawthorne.

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Foto-Disclaimer

Das Foto im Blog-Header wurde freundlicherweise von Sandra Rugina zur Verfügung gestellt. Es zeigt den Bâlea-See in den rumänischen Karpaten. Alle Rechte liegen bei der Autorin.