Montag, 16. Mai 2016

Eine kleine Gruselgeschichte aus der zentralen Sahara

Es war einmal ein Targi, der mit seinem Kamel durch die Wüste reiste. In einer Nacht kam er in ein grünes Tal und sah ein Lagerfeuer brennen. Als er bei dem Lager anlangte, grüßte ihn eine Frau. Er ließ sein Kamel niederknien und stieg ab; sie übernahm das Kamel und sattelte es ab. Er setzte sich ans Feuer und wartete, dass sie ihm das Gastessen bringt.

Er wartete, aber sie kam nicht zurück. Schließlich verlor er die Geduld und wollte weiterreiten. Als er sein Kamel suchen ging, hörte er von weitem ein Stimmengewirr: »Mir auch!« – »Mir auch!« – »Mir auch!« …

Er folgte den Stimmen in die Dunkelheit — und fand seine Gastgeberin. Sie hatte sein Kamel geschlachtet und fraß es. Die Stimmen riefen: »Mir auch!« – »Mir auch!« …

Die Frau hatte einhundert Münder, überall am Körper hatte sie Münder, mit denen sie das Kamel verschlang. Wenn sie sich in einen Mund Fleisch steckte, verlangten neunundneunzig andere: »Mir auch!« …

»Wer bist du?« fragte der Targi. Der Chor ihrer Münder antwortete: »Ich bin Djelwán, Tochter der Leere.« Da lief er fort in die Wüste, allein, ohne Proviant und ohne Kamel.


Dies ist eine relativ direkte Übersetzung einer Geschichte, die Anfang des 20. Jahrhunderts von Franzosen aufgezeichnet und publiziert wurde (Chaker, S., Claudot, H., & Gast, M. (1984). Textes touaregs en prose de Charles de Foucauld et A. de Calassanti-Motylinski, réédition critique avec traduction. Aix-en-Provence, Édisud. S. 296). Hier noch der Originaltext:


Tənnɐ tanəḳḳist: âləs ijən irŭən n Amâhaṛ, juṛâr amis-ənnît jəssûkal, ad jus eṛahar ijən s ehoḍ, inə̆j d-əs temse, ikk-êt, iʒʒən edis-ənnît, tus-ê-hid taməṭ, təḑ-âs »ma n ə̆vîn«, təḳḳə̆l edəg-ənnît. Âləs iṛil taməṭ təmûsət avadəm. Jəḳḳîm, jəḳḳâl i amaḑaru, ad ikkə̆s əṭṭəma n harət; iglɐ, iḑmə̆j amis-ənnît; ad inə̆j taməṭ tanṛ amis, islɐ i: »Nək! Nək! Nək!« jəḑḑîn. Isvŏḍ, inə̆j taməṭ təlât têmeḍe n ə̆mi, eləm-ənnît imdâ imavən, ənta tâtt əs mavən əmdân; əmi daṛ ḑâ sân, ed jənn ə̆mi va haḍən: »Nək!«. Imavən əmdân ḑânnin: »Nək! Nək! Nək!«. Innɐ-hâs âləs: »Kem-âk, ma təmûsəd?« Tənnɐ-hâs: »Nək Ḑəlvân, ult-ə̆sûf.« As islɐ i avâl-ənnît, jərvə̆l.

Foto-Disclaimer

Das Foto im Blog-Header wurde freundlicherweise von Sandra Rugina zur Verfügung gestellt. Es zeigt den Bâlea-See in den rumänischen Karpaten. Alle Rechte liegen bei der Autorin.